Leitartikel

„SSW mit Berliner Luft“

SSW mit Berliner Luft

SSW mit Berliner Luft

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Am 8. Mai wird in Schleswig-Holstein gewählt. Kehrt der SSW als Zünglein an der Waage vielleicht wieder auf die Kieler Regierungsbänke zurück? Populär und populistisch, Siegfried Matlok analysiert die Wahlchancen der dänischen Minderheiten-Partei.

Selten hat die Partei der dänischen Minderheit, der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), in seiner turbulenten Geschichte seit 1949 einer wichtigen Wahl so optimistisch entgegensehen können wie der schleswig-holsteinischen Landtagswahl am 8. Mai. Das ist wesentlich darauf zurückzuführen, dass dem SSW sein Berliner Experiment zu glücken scheint. Die Diskussion über ein Pro und Kontra Bundestagswahl ist verstummt, seitdem Stefan Seidler bei der Wahl 2021 in den Reichstag eingezogen ist und der SSW durch ihn nicht nur psychologischen Rückenwind aus Berlin verspürt.

Seidler hat – so ist auch aus zunächst skeptischen Reihen der dänischen Minderheit zu hören – bisher alle Erwartungen übertroffen. Die Annahme, er würde höchstens wenige Minuten durch seine Jungfernrede im Bundestag auffallen, hat sich nicht bestätigt – im Gegenteil. Er hat für sich und den SSW eine so hohe (fast unglaubliche!) bundesdeutsche Medienpräsenz erreicht, dass der mit seiner Kandidatur verbundene Wiedererkennungseffekt nun für den SSW bei der Landtagswahl positiv durchschlagen kann. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass es sich um das historische Meyer-Erbe handelt, denn sowohl Karl Otto Meyer als auch Sohn Flemming, die beide dem Landtag angehörten, hatten seit Jahren auf einen Sitz im Deutschen Bundestag gedrängt – vergeblich. Erst Flemming Meyer gelang als SSW-Vorsitzendem der Durchbruch; sogar gegen einflussreichen partei-internen Widerstand.

Dass die Seidler-Wahl günstige Winde Richtung Norden und Kieler Förde bringen kann, hängt auch mit dem guten Ergebnis der Bundestagswahl zusammen. Der SSW, der ja bei den Erststimmen stets chancenlos ist, erhielt bei der Bundestagswahl erstaunliche 55.578 Zweitstimmen. Diese Zahlen berechtigen durchaus zu Optimismus, denn bei der Landtagswahl 2017 kam der SSW nur auf 48.941 Zweitstimmen. Das war sogar ein deutlicher Rückgang gegenüber den 61.085 Stimmen im Jahre 2012. Vieles spricht also dafür, dass der SSW bei dieser Landtagswahl wieder einen Zuwachs erwarten kann. Jüngste Meinungsumfragen prognostizieren dem SSW „stabile“ 4 Prozent. Letztes Mal wurde das dritte Landtagsmandat nur hauchdünn gesichert. Die drei Sitze sind das Minimalziel des SSW, der jedoch nun insgeheim von einem vierten Mandat träumt.

Seidler-Berlin spielt gewiss eine Rolle, aber letztlich hat eine Landtagswahl stets landespolitische Schwerpunkte, auch wenn diese Wahl wahrlich unter einem bösen-traurigen Stern steht – nämlich der Ukraine. Wenn der SSW nicht nur im Landesteil Schleswig Beachtung findet, dann darf man dabei die langjährige (Vor-)Arbeit von K. O. Meyer und Anke Spoorendonk nicht vergessen, die der jetzige Fraktionsvorsitzende Lars Harms – der schon seit dem Jahre 2000 (!) dem Landtag angehört – mit großer Professionalität weitergeführt hat, die ihm von allen Seiten bescheinigt wird. In der Periode von 2012-17 war der SSW sogar erstmalig in seiner Geschichte Regierungspartei: In der Küsten-Koalition mit SPD und Grünen, die im Wahlkampf von der CDU als „Dänen-Ampel“ verteufelt wurde. Spoorendonk wurde Ministerin, aber das Aus für die Koalition nach einer Legislaturperiode bedeutete auch eine Neu-Orientierung für den SSW, die Harms ausgerichtet hat, klug, ohne eine fundamentale Opposition gegen die aus CDU, Grünen und FDP bestehende Landesregierung zu führen.

Der SSW hat sich dadurch taktisch geschickt wieder ins Spiel gebracht als Zünglein an der Waage, falls die nächste Regierung die Mandate des SSW zur Mehrheit benötigt. Ein Beispiel für den Wandel des SSW: Vor der jüngsten Wahl schloss Harms noch eine Koalition mit CDU und AfD strikt aus. Dass der SSW die CDU so ablehnte, hing mit den früheren minderheitenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen CDU und der dänischen Minderheiten-Partei zusammen, die in der Zeit des früheren CDU-Ministerpräsidenten Peter Harry Carstensen zu heftigen Zusammenstößen, ja sogar zu Demonstrationen vor dem Kieler Landeshaus führten. Der Wandel ist aber auch gegenseitig, betrifft den heutigen CDU-Ministerpräsidenten Daniel Günther, den nicht nur der SSW damals völlig unterschätzt hatte. Er gilt heute sogar als der populärste Ministerpräsident in Deutschland, und Günther hat sich frühzeitig für ein besseres Verhältnis zur dänischen Minderheit und zu Dänemark eingesetzt, was auf dänischer Seite – auch in Kopenhagen bis zum  Hofe – sehr anerkannt worden ist. Nicht nur mit seiner Teilnahme am Royal Run in Sonderburg, wo der frühere Eckernförder Handballer Günther sogar unprotokollarisch Kronprinz Frederik überholte. Das persönliche Verhältnis zwischen Günther und Harms ist entspannt, sie respektieren  sich – also sind die „chemischen“ Voraussetzungen für eine engere Partnerschaft bereits vorhanden. Die „Eiszeiten“, die es zum Beispiel früher zwischen MP Stoltenberg und K. O. Meyer gab, sind glücklicherweise vorbei!

Interessant ist natürlich auch ein Blick auf den Wahlkampf des SSW, der in 13 Wahlkreisen in Südschleswig und auf Helgoland sowie mit einer Landesliste antritt. Der neue Parteivorsitzende Christian Dirschauer, der nach dem freiwilligen Rücktritt von Flemming Meyer den SSW führt, ist zwar nach eigenen Worten „etwas nervös“, aber die Partei ist ja längst nicht nur Minderheiten- und Regionalpartei, sondern sie setzt auch immer wieder landespolitische Akzente, um über den alten Minderheiten-Kern hinaus sozusagen „deutsche“ Wähler zu gewinnen. „Für uns im Norden“ will der SSW unter anderem die grenzüberschreitend verschmutzte Flensburger Förde retten. Vor allem hat er aber angesichts des Krieges in der Ukraine und der nicht nur durch die Energiepreise gestiegenen Lebenshaltungskosten einen werbewirksamen Slogan: „Damit das Leben im Norden bezahlbar bleibt.“ Das spricht den sogenannten kleinen Mann an, ebenso die sozialpolitische Forderung nach einer Senkung der Mehrwertsteuer bei gleichzeitiger Erhöhung der Einkommenssteuern.

Interessant ist, wie der SSW im Wahlkampf die Fragen in Verbindung mit dem russischen Angriffskrieg behandelt. Der SSW – traditionell eher links-pazifistisch, auch mit starker Beteiligung an den früheren Oster-Atommärschen südlich der Grenze – lässt natürlich kein gutes Haar an Putin, aber wo ist der SSW etwa bei der Frage nach schweren deutschen Waffen für den Überlebenskampf der Ukraine? Ja, der SSW hat sogar für sich eine Nische gefunden, die einen populistischen Verdacht auslösen kann. Während sich die Grünen mit dem dänischsprachigen Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck aus Flensburg täglich um eine schnelle Befreiung aus der energiepolitischen Geiselhaft durch Russland bemühen und dabei selbst eigene Tabus im Interesse einer energiepolitischen Unabhängigkeit vom russischen Erdgas ignorieren, lehnt der SSW den von der Bundesregierung geplanten LGN-Terminal in Brunsbüttel als „fatalen Kniefall vor der Gaslobby“ strikt ab. Der Hinweis, dass es sich dabei um umweltschädliches Fracking handelt – von Grünen und SSW früher mit gemeinsamen Bürgerprotesten auch in Schleswig-Holstein erfolgreich verhindert –, ist zwar korrekt und berechtigt, doch in dieser dramatischen Lage lassen sich wohl auch wahlstrategische Motive nicht ganz leugnen. Enttäuschte grüne Habeck-Wähler könnten so dem SSW am 8. Mai wichtige zusätzliche Stimmen bringen.

Der 57-jährige Friesen-Däne Harms aus Husum, der keinen Bock auf Ideologien hat, steht bereit, falls der SSW als Königsmacher in Kiel gefragt wird. Er wird natürlich – nicht nur für die dänische Minderheit – einen hohen Preis verlangen, aber unüberwindbare Hürden sind bei möglichen Koalitionsverhandlungen nicht in Sicht.

Das Zeug zum Minister hat Harms allemal!

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