Kardels Tagebuch: 1914-1918

Einträge von Oktober 1918

Einträge von Oktober 1918

Einträge von Oktober 1918

Harboe Kardel
Frankreich
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Kardels Tochter Elsbeth Kardel Knutz hat unserer Zeitung die eigenhändig abgetippten Tagebücher zur Verfügung gestellt, sodass Der Nordschleswiger bis zum Ende der Aufzeichnungen bis 2018 Kardels Tagebucheintragungen abdrucken kann. Die Einträge sind immer am 1. eines Monats 100 Jahre später abrufbar.

1. Oktober 1918.

Bei Mutter gab es noch am letzten Abend Pudding mit roter Sauce. Sie gab ihr bestes, während ich auf Urlaub war.

Und nun habe ich aus dem nach Süden fahrenden Zug meine liebe kleine Heimatstadt

erstmal wieder zum letzten Mal gesehen.

 

3. Oktober 1918.

Nun bin ich in Charleville. Keiner kann mir Auskunft geben, wo die 17. Reserve-Division liegt. Ich fühle mich furchtbar einsam.

In Köln kam ich durchs Fenster in den Zug nach Charleville.

 

4. Oktober 1918.

Gestern Abend sah ich „Die versunkene Glocke“ von Gerhard Hauptmann.

Ich seufze oft: „ Wär` ich doch erst wieder bei meiner Batterie!“ Ich bin hier heimatlos. Zu Essen gibt`s auch sehr wenig. Aber wo soll ich hin?

Heute fand ich hier wieder liebe Kameraden vom Regiment 17, dieLeutnants HusterKarpinskiAndersenLüdersund Liebisch. Nach Flandern sollen wir, in unsere alte Heimat. Also reisen wir morgen erstmal nach Brüssel.

Nett war „Die Anna-Liese“. Ich sah das Lustspiel heute Abend. Es zeigte die Jugendliebe des „alten Dessauers“.

 

5. Oktober 1918.

Um 9 Uhr Abfahrt von Charleville, um 6.29 Ankunft in Brüssel.

Mit 4 Kameraden wohne ich in einem prächtigen Hotel, in der Nähe des Nordbahnhofes, Hotel „Bristol“.

Ich komme mir in den großen Städten immer klein vor. Ich kann mich noch nicht ganz in ihnen zurechtfinden.

Vermutlich sollen wir in Flandern einen Gegenstoß machen.

Eben war ich mit Lt. AndersenHuster und Jungein „Gaîte“ und „Merry Grill“.

Viele schicke Mädchen waren da. Meine Begleiter meinten: 20 M für einen Abend

In Brüssel ist nicht viel. Herrgott, was für ein Vermögen waren in Husum 20 M!!!

Im Vorbeigehen sagte eine Dame: „Die verwechselt das Herz mit dem Magen.“

Das gab mir zu denken. Hier in Brüssel spricht nur der Magen. Ich wollte den Betrieb hier kennen lernen, aber ich stimmte ihm nicht zu.

 

7. Oktober 1918.

Unter meinen Fenstern rauscht das Leben von Gent. Ich bin in großer Spannung, denn von der Note des neuen Reichskanzlers erwarte ich den Frieden. Es muss sich ja bald entscheiden.

Gestern war ich mit vielen Kameraden in „La cloche“.Ich wollte auch dies kennen lernen. Schick waren sie ja, fast alle, die Mädels, aber Liebe und Geld sind zwei verschiedene Dinge.

Die 17. Reserve Division liegt bei Thielt. Dorthin fahre ich nun.

Herzhaft schlug mir der alte Gätgens auf die Schulter, als ich heute Abend in Meulebekezu ihm ins Zimmer trat. Ich fühl es: Hier ist meine zweite Heimat. Hier sind Menschen, auf die ich mich in Not und Tod verlassen kann. Alles hofft stark auf Waffenstilstand.

 

8. Oktober 1918.

Morgen sollen wir verladen werden. Schade! Es war so nett hier. Mein Zimmer im Schloss Bussoutund das Kasino am Markt vonMeulebekemit dem guten Klavier, alles war o.k.

Ich hoffe stark auf Waffenstillstand. Wir haben heute Abend zusammen gesungen und gescherzt. Gute Kameraden sind ein kostbarer Schatz.

 

11. Oktober 1918.

In Tournai erfuhren wir von Wilsons vorläufiger, nach anderer Ansicht abweisender Antwort auf unser Waffenstillstands – Angebot und von der neuentbrannten Schlacht zwischen Cambraiund St. Quentin. Nun wussten wir auch, wohin wir kämen.

Und richtig, in Avesnesbei Solesmeswurden wir ausgeladen.

Im Nachtmarsch erreichten wir Landrecies, als die Ortskommandantur ausrückte.

Wir machten selbst Quartier. Die Organe in der Etappe versagen, sobald es mulmig wird. Dann fängt ja unsere Arbeit erst an.Landrecies ist überfüllt doch kommen wir noch unter. Vorne ist ein großes Schlamassel, und wir werden wohl noch heute Nacht nach vorne müssen. Wie schnell ist der Friedenstraumverflogen!

 

12. Oktober 1918.

Ich sollte heut` Morgen mit Leutnant Karpinskizusammen Stellung gehen. Wir hatten Landrecies noch nicht verlassen, als ein neuer Befehl kam: Die Batterien werden noch nicht eingesetzt. Sie bleiben in dauernder, erhöhter Alarmbereitschaft. Nördlich von uns scheint Grosskampf zu sein.

Ich habe das empfinden, als wenn die Moral im deutschen Heer mit Riesenschritten zurückgeht. Das fluchtartige zurückgehen auf Le Cateau, der Sturm auf das Proviantamt in Landrecies, das wenig ehrerbietige Benehmen der Soldaten gegen ihre Vorgesetzten sind bedenkliche Zeichen der Zeit. Gestohlen wird wie nie vorher. Ist es möglich, mit einem solchen Heer einen „Kampf auf Leben und Tod“durchzukämpfen?

Die langerwartete Beschießung von Landrecieshat nun begonnen. Mit fabelhafter Genauigkeit beschoss der Franzose den Bahnhof. Tote Pferde, Auto-Trümmer, die verwundeten Behnke undSergt. Krickow 6/17sind der Erfolg. Zur 6. Batterie muss jetzt Umgehungsweg erkundet werden, denn jetzt wegbleiben, wo sie im Schmalz schwimmt, ist unmöglich. 400 Pfd. Har die Batterie vom„Comitè“geerbt.-

 

13. Oktober 1918.

Ich kann nicht umhin, unser heutiges Sonntagsessen zu erwähnen:Bouillon mit Reis, Deutsches Beefsteak, Pfannkuchen, Kaffee mit Rahm und Zucker.

Wir haben selten so gut gegessen wie jetzt.

Dr. Gloevom Infanterieregiment 162 brachte neue Nachrichten über einen nahe bevorstehenden Waffenstillstand. Ich glaube auch daran. Das Gegenteil wäre für mich eine große Enttäuschung. Wie schön muss es sein, wenn die Geschütze schweigen und die Ruhe in das gequälte Europa wieder einzieht!

 

14. Oktober 1918.

Das gemeinsame Kasino der 4. und 6. Batterie ist jetzt in der Nähe der Kanalbrücke eingerichtet.

Ab 5.30 war wieder „erhöhte Alarmbereitschaft“ befohlen. Es blieb aber ruhig.

Zeitungen erreichen uns nicht. Nur wilde Gerüchte. Abdankung der Hohenzollern!!

Ich hoffe immer noch dass es bald Waffenstillstand gibt.

In einer Zeitung vom 13. 10.Las ich unsere Antwortnote an Wilson. Wir wollen die besetzten Gebiete räumen—ein großes Zugeständnis, ein Opfer fur den Frieden.

So kommen wir der Erfüllung unseres heißesten Wunsches näher. Aber noch donnern die Geschütze, beeilt Euch, ihr Staatsmänner! Es gilt Menschenleben retten!

Heute Abend wird wieder ein gemütlicher Doppelkopf steigen, den hatRudiauch gern mit seinen Kameraden in Erlangen gespielt.

 

15. Oktober 1918.

Heute Morgen mussten wir uns um 5 Uhr an der Strasse LandreciesFontaine –auxBoisbereitstellen, da ein Angriff erwartet wurde. Es blieb aber ruhig, und um 7.30 waren wir wieder im Quartier.

Ich kann mir eigentlich nicht denken, das der Feind noch Großangriffe macht. Wir räumen ja alles freiwillig.

 

16. Oktober 1918.

Auch heute mussten wir wieder bei Fontaine-aux Boisstehen, im strömenden Regen.

Ich trinke jetzt Kaffee und erkunde nachher mit Lt. Boukiesrückwertige Stellungen.

Dabei merkte ich, dass noch Krieg ist, und ich träume immer vom Frieden. Ich kann es mir gar nicht denken, wie es wird, wenn er nichtkommt.

 

19. Oktober 1918.

Faul ist es mit dem Frieden. Das erfuhr ich in FontainevonLt. Pohlmeyer, wo wir am 16.10. zuerst bis 3 Uhr nachm. standen, um dann eingesetzt zu werden. Zugleich wird Umzug vonLandrecies nach Fontaine befohlen.

Ich ging mit der Batterie in Stellung im Walde von Pommereuil.

Wir wohnen in den Baracken eines früheren Gefangenenlagers. Einige schiessversuche am Abend, die uns in die Gegend südlich Bazuelführten, misslangen.

 

Am 18. 10.Bei einem feindlichen Angriff verschießen wir alle unsere Haubitzenmunition und bekommen Feldkanonen von der I. Abteilung. Nachmittags mussten wir „Stiften gehen“ vor großkalibrigen Geschossen. Nachts machten wir ein Gasschiessen aufLe Cateau

Jetzt ist es 6.30. Ich wundere mich, dass das Trommelfeuer noch nicht da ist. Und der Friede? Er scheint wieder sehr fern.

Ich bin sehr niedergeschlagen. Ich rechnete nicht mehr mit dem Krieg, sondern nur mit dem Frieden. Wir merken an allen Ecken und Kanten, dass wir uns nicht mehr wehren können. Sollte der Krieg noch ein Jahr oder länger dauern, dann ist`s aus mit mir. Dann kann man die beneiden, die schon Ausgelitten haben, denn uns steht dann Tod oder Verstümmelung vor.

In Fontaine aux Boishabe ich ein gemütliches Quartier. Hab` auch schon musiziert.

Lt. Sternkommt heute ins Lazarett.

Ich glaube noch an einen nahen Frieden, alle können sich von diesem Wort nicht mehr losmachen, das einen magischen Zauber auf sie ausübt.

 

20. Oktober 1918.

Mit einer aus Le Cateaugeflüchteten Mademoiselle habe ich mich gut unterhalten. 

Sie sagte: „Man muss mit den Deutschen zusammengelebt haben, um sie kennen und schätzen zu lernen.“ Und wie wird es nach dem Kriege werden fragte ich. Darauf antwortete sie: „Nous parlerons“(wir werden miteinander reden).

Eben war Lt. Schusterund Karpinski hier.

 

24. Oktober 1918.

In Monaten habe ich nicht so viel erlebt wie in den letzten 24. Stunden! Aber es waren hauptsächlich unangenehme Sachen. Nach dem Warten mit Lt. Roggenbau im Regen in der neuen Stellung und dem Einschiessen vom trigonometrischen Punkt zwischen Bazuel undPommereuilaus begann ein Trommelfeuer, wie ich`s selten erlebt habe. Selbst unsere bis dahin ruhige Stellung blieb nicht verschont. Die sah zuletzt aus wie ein Trichterfeld. Ungewissheit herrschte, es kamen keine Befehle und keine Protzen.

Endlich, ich glaube um 7.30 kamen die Protzen der 5. Batterie. In rasendem Artilleriefeuer ging ich mit diesen und 2 Geschützen zurück nach Happegarbes.Dann holte ich die anderen beiden Geschütze nach. Diesmal schlugen die Schüsse rechts und links, vor und hinter mir ein, und ich dachte: Wann kommt dein Schuss?

Aber weiter! Die Geschütze müssen heraus. Die Feuerwalze des Gegners lag auf dem Wald.

Bruder Andreasmachte sich beim Aufprotzen sehr brav. Im Galopp ging`s zurück nach Happegarbes, stolz kam ich mit meinen beiden „Flinten“ an. Mittags gingen wir in der Vorstadt Soyère in Stellung. Ich erkundete Tankpunkte und habe da eben 2 Geschütze der 4. Und 8. Batterie hingebracht. Ich habe heute wieder den Krieg aus vollem Herzen Gehasst!

Mietze Strehlauschickte mir einen lieben Brief. Der kam gerade recht. 

Es bleibt ein toller Zauber. Heute Morgen erschien Lt. Wieslerplötzlich mit der Nachricht: Der Engländer ist schon in Fontain.

Von der Gruppe kam nun auch der Befehl zum abrücken. Also fort! Auf einer Patrouille, die ich nachher ritt, stellte ich fest, dass der Feind tatsächlich schon weit vorgekommen war. Kurz nördlich Soyèreverschossen wir unsere letzte Munition auf Fontaine und gingen dann in Stellung bei dem Sägewerk von Haute Cornèe.

 

27. Oktober 1918.

Am 25. 10.Nachmittags kam das, was ich schon lange erwartet hatte: Meine Kommandierung als Artillerie-Verbindungs-Offizier beim Reserve-Infanterie-Regiment 26.

Es mag 9.30 gewesen sein, als ich in den Keller des Regiments-Stabes gerufen wurde. Alle 2 Minuten schaukelte der Erdboden unter der Einwirkung eines „Stollenquetschers“, einer Granate mit Verzögerung. Ich war eben unten angelangt, als der Keller unter der Wucht eines Geschosses zerbrach. Alles war dunkel, entsetzliche Gaswolken hüllten alles ein. Das Schreien und Wimmern der Verstümmelten mischte sich mit Rufen nach Licht.

Zuerst arbeiteten die Gesunden sich raus. Ich blutete an der Stirn und hatte auch andere Stellen schmerzen, aber es war alles heil. Dann holten wir die Verwundeten herauf, darunter den Regimentskommandeur.

Ich war nun am Ende meiner Kraft. Meine Nerven versagten, die Spannkraft war hin. Zu viel des Aufregenden hatte ich in den letzten Tagen erlebt, zu oft das letzte an Energie aus mir herausgeholt. Die Wunde am Kopf war noch nicht verheilt, dazu wollte mich der neue Kommandeur Hauptmann Scharf auch noch bewegen und nach vorne schicken. Ich meldete mich krank und bat um Ablösung.

Um 8 Uhr ritt ich nach Aulnoye. Hier suchte ich die Batterie vergebens und pennte in der Ortskommandantur. Mein Pferd band ich unten an einen Pfahl im Hof.

Erst am Morgen des 27. 10. Fand ich mich zurecht und wurde in unserem gemütlichen Kasino wieder Mensch. Es mussFrieden geben, denn wir können nicht mehr. 

Die schweren Kaliber haben bewirkt, dass unsere Nerven völlig verbraucht sind.

 

29. Oktober 1918.

Gestern rückten wir ab von Aulnoye, wo wir gute Unterkunft hatten, nach Hautmontbei Maubeuge, wo alles überfüllt war von Flüchtlingen.

Ludendorff ist gegangen. Für den Krieg war er gut, aber für den Frieden war er ein Hindernis.

 

31. Oktober 1918.

Proppenvoll war Estine au Val,unser Quartier in der Nacht vom29./30. 10

Umso mehr freuten uns die schönen Quartiere in Carnières. Die alten Fahrer machten frohe Gesichter, als ich ihnen betten anwies. Unser Hauswirt leerte gestern mit uns eine Flasche Rotwein.

Mit GätgensSchuster und Andersenbesuchte ichLa Louvière. Wie assen dort Herrlichen Kuchen. In Carnièreshatten wir besuch von der 6. Batterie. Mr. und Mme Robert waren dabei. Die Stimmung war glänzend. „Vieuz“, d.h. Gätgens,schwang eine lange französische Rede über Völkerversöhnung und Frieden, die das Herz jedes Demokraten erfreuen musste. „ Mais il ne faut pas nous souler,“(aber es geht nicht, dass wir besoffen werden) sagte Mr. R., als ich ihn zu einer Runde einlud.

Und es kam doch beinah so weit, eben vorher, sehr richtig, machten wir Schluss. Das schöne Roiglise-Liedvon Semper kam gestern zu Ehren.

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