Deutsche Minderheit

Neuer Lebensabschnitt mit Mitte 70

Neuer Lebensabschnitt mit Mitte 70

Neuer Lebensabschnitt mit Mitte 70

Tingleff/Tinglev
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Heike und Walter Jacobsen fühlen sich wohl in ihrem neuen Zuhause in Tingleff. Foto: Karin Riggelsen

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Ein Neuanfang mit 76 Jahren? Heike und Walter Jacobsen haben ihn gewagt. Sie tauschten ein riesiges Grundstück bei Warnitz mit Ländereien, parkähnlichem Garten, 300 Quadratmeter Wohnfläche und eigenem Zugang zum Strand gegen ein neues Zuhause in Tingleff. Ein besonderes Ritual hat den Abschiedsschmerz gemildert.

Fünf Minuten bis zum Kaufmann und zur Kirche, fünf Minuten bis zum Arzt und in die Apotheke, in fünf Minuten am Bahnhof. Und das alles zu Fuß.

Für Heike und Walter Jacobsen waren das entscheidende Argumente, um ihr Hab und Gut in 200 Umzugskartons zu packen und sich von ihrem bisherigen Wohnsitz in Warnitz sowie den vielen Dingen, die sich angesammelt hatten, zu trennen und nach Tingleff zu ziehen.

Viel Freiheit, aber wenig Freizeit

„Als wir den Hof ,Wold’ 2005 übernahmen, waren wir beide 60 Jahre alt und voller Energie“, erzählt Heike Jacobsen. Zum Hof gehörten auch ein 2,5 Hektar großer Garten mit einem Bach, vielen besonderen Gehölzen und so vielen Rosen, dass auch die Rehe sich gern bedienen durften. Die Jacobsens hatten etwa 300 Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung, zwei Sommerhäuser und ein riesiges Stallgebäude auf dem Grundstück – dazu einen eigenen Wald und einen direkten Zugang zum Strand. Das klingt nach viel Freiheit – bedeutete aber auch wenig Freizeit.

Es war ein schwerer Entschluss, wegzuziehen, und der Abschied fiel nicht leicht.

Walter Jacobsen

Mittlerweile sind der ehemalige Anwalt und die Keramikerin und bildende Künstlerin beide 76 Jahre alt, und in den vergangenen Jahren hatte sich ein Gedanke immer wieder eingeschlichen: „Was, wenn mal einer von uns stirbt und der andere allein zurückbleibt?“

Das Zuhause in Schuss zu halten, das wäre für eine Person allein erst recht nicht zu bewältigen gewesen. Und so drängte sich die Umzugsfrage quasi immer mehr auf: „Irgendwann dachten wir, wenn, dann jetzt“, sagt Walter Jacobsen. „Es war ein schwerer Entschluss, wegzuziehen, und der Abschied fiel nicht leicht. Aber es war richtig und vernünftig, denn es hätte so nicht weitergehen können. Da konnte man ebenso gut den Stier bei den Hörnern packen.“

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Das Haus der Jacobsens ist von viel Grün umgeben. Foto: Karin Riggelsen

Der Wehmut, das alte Zuhause im Varnæsvig aufzugeben, folgte bereits nach der ersten Nacht im neuen Haus große Erleichterung. „Und das obwohl nur der Esstisch und einige Stühle an ihrem Platz standen – rundherum war alles voller Umzugskisten“, lacht Heike Jacobsen.

Links und rechts Nachbarn aus der Minderheit

Dass das Ehepaar, das sich zur deutschen Minderheit in Nordschleswig zugehörig fühlt, in Tingleff gelandet ist – links Nachbarn aus der Minderheit, rechts Nachbarn aus der Minderheit –, war eher ein Zufall. „Wir haben uns viele Häuser angeguckt – auch in Apenrade, Augustenburg, Krusau und Gravenstein“, erzählt Heike Jacobsen, „und es war nie das Richtige dabei. Irgendwann kam der Makler aber mit der Nachricht: Ich glaube, ich habe jetzt was für euch.“ Und das war der Volltreffer.

Nun leben sie auf einem 750 Quadratmeter großen Grundstück mit immerhin noch 160 Quadratmetern Wohnfläche. Hinzu kommen ein Geräteschuppen und eine kleine Werkstatt, denn Heike Jacobsen ist künstlerisch noch immer aktiv und gerade an einer Ausstellung beteiligt, die zurzeit in Eckernförde und anschließend in Dronninglund zu sehen ist.   

Im Wald schon Bekannte getroffen

Rund ums Haus gibt es nicht nur einen Garten, sondern sogar einen eigenen Zugang zu einem kleinen Wald. „Aus dem Wohnzimmerfenster haben wir fast denselben Blick wie vorher. Nur dass es nicht unser eigener Wald ist. Aber das muss ja nicht sein“, so Heike Jacobsen. „Im Wald haben wir sogar schon Bekannte getroffen und eine ganze Weile geschnackt.“ Auch das reiche Vogelleben rund um ihr neues Grundstück trägt zu dem Fazit und dem guten Gefühl bei: „Hier haben wir alles, was wir brauchen.“

Mittlerweile ist das meiste ausgepackt, eingeräumt, aufgehängt. Pflanzen haben sie nicht mitgenommen – „nur einige Märzbecher vom Bach, die zu meinen Lieblingsblumen gehören“, erzählt Heike Jacobsen. „Wir sind gespannt, was in diesem Garten alles so kommt.“

Es gab Momente, da war das Ehepaar mit dem Organisieren des Umzugs überfordert. Denn sie mussten nicht nur bei ihrem eigenen Hausrat entscheiden, was mitkommt und was nicht. Im Stall und auf dem Dachboden lagerten außerdem noch Dinge von Walter Jacobsens Eltern, die seit 1950 einige Jahrzehnte auf dem Anwesen gelebt haben.

Die Schlechten ins Kröpfchen, die Guten in die Umzugskartons

„Irgendwann fühlte ich mich völlig hilflos, weil es mir unüberschaubar vorkam“, so Heike Jacobsen. Doch mit der Hilfe – und vielleicht dem nötigen inneren Abstand – ihrer beiden Töchter kamen sozusagen, frei nach dem Märchen vom Aschenputtel, die Schlechten ins Kröpfchen und die Guten in die Umzugskartons.

Eine Tochter hatte auch die Idee, der schmerzhaften Seite des Umzugs durch eine spezielle Abschiedszeremonie die Intensität zu nehmen. Für die sieben Menschen, die an der Zeremonie teilgenommen haben – also Heike und Walter Jacobsen, ihre beiden Töchter und die drei Enkel – wurde ein Rondell in ihrem Garten in sieben Stücke aufgeteilt. Nach und nach haben dann alle etwas in diesem Mantra abgelegt, was sie vorher zufällig im Garten finden sollten.

Wir haben viel geweint, aber das Ritual hat uns gestärkt, und wir konnten ein schönes Kapitel unseres Lebens abschließen.

Heike Jacobsen

„Das konnte etwas sein, woran man hängt, was einem etwas sagt, was mit einer bestimmten Erinnerung verbunden ist“, so Heike Jacobsen. Ihr Mann fand einen Spaten, sie selbst wollte schon Rhododendronblüten abschneiden, als sie vor der Pflanze genau das Richtige entdeckte: „Einen tollen großen Stein, der sehr hübsch geformt war.“

Dann legten alle ihre Fundstücke ab und erzählten dazu, warum sie gerade das genommen hatten und welche Erlebnisse und Erinnerungen sie sonst noch in all den Jahren mit dem Hof verbunden hatten, den sie nun – jede und jeder auf eigene Weise – verlassen würden.

Schließlich wurden die Grenzen zwischen den sieben Abschnitten entfernt. Alles wurde eins, und Heike Jacobsen hat es so erlebt: „Mir fiel ein Stein vom Herzen.“ Und sie fährt fort: „Wir haben alle geweint, aber das Ritual hat uns gestärkt, und wir konnten ein schönes Kapitel unseres Lebens abschließen.“

Jetzt beginnt für die beiden 76-Jährigen eine neue Zeit – ein neuer Lebensabschnitt.

Vom Hof aus brauchten sie vorher zehn Minuten, um mit dem Auto ins Dorf Warnitz zu gelangen. Und dort gab es nicht mal einen Kaufmann. „Im vergangenen Winter waren wir so eingeschneit, dass wir eine Woche nirgends hinkonnten“, erzählt Walter Jacobsen.

Das ist nun vorbei. Und wenn sie die Festveranstaltung der deutschen Minderheit zum Deutschen Tag in Tingleff besuchen möchten, müssen sie nur ein Stück über die Straße gehen. „Im Alter ist es einfach wichtig, dass man es leichter hat“, versichert der 76-jährige Neu-Tingleffer.

 

Die Keramikerin und bildende Künstlerin Heike Jacobsen freut sich, dass zum neuen Zuhause eine Werkstatt gehört. Foto: Karin Riggelsen
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