Leitartikel

„Dänemark sollte beim Mindestlohn seine Extrawurst behalten dürfen“

Dänemark sollte beim Mindestlohn seine Extrawurst behalten dürfen

Mindestlohn: Dänemark soll seine Extrawurst behalten dürfen

Apenrade/Aabenraa
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Kaum Kündigungsschutz und keine gemeinsame Untergrenze beim Gehalt wie im Rest Europas: Dänemarks (und Schwedens) Gewerkschaften kämpfen dafür, dass es so bleibt. Und das mit Fug und Recht, meint Cornelius von Tiedemann. Doch der Kampf gegen Brüssel birgt auch Gefahren für das Königreich.

Der EU-Mindestlohn: Für viele ist er ein lang ersehnter Segen, der bald endlich wahr wird. In Dänemark hingegen wird er als Bedrohung wahrgenommen. Denn die Gewerkschaften fürchten, dass Arbeitgebende dann graduell dazu umschwenken, nicht mehr nach Tarif, sondern nur noch den Mindestlohn zu zahlen.

Doch Moment: Die kommende Direktive zum Mindestlohn in den europäischen EU-Mitgliedsstaaten wird Dänemark und Schweden doch zunächst gar nicht betreffen? Das geht doch aus den Regeln eindeutig hervor!

Weshalb klagt Dänemark dann jetzt doch gegen die Mindestlohn-Direktive? Weshalb riskiert das kleine Land, dass die Direktive auf sein Bestreben hin für ungültig erklärt wird und der EU-Mindestlohn in ganz Europa flachfällt?

Weil die Gewerkschaften und die Arbeitgebendenverbände auf beiden Seiten des Öresunds sich Sorgen machen. Sie fürchten, dass sich europäische Arbeitsmarktvorgaben auch dann schrittweise einschleichen könnten, wenn Dänemark und Schweden zunächst noch ausgenommen sind. Sie fürchten, dass das gesamte nordische Arbeitsmarktmodell dann zusammenbrechen könnte.

Die dänische Regierung hat deshalb bereits angekündigt, gerichtlich gegen die Direktive vorzugehen. Eine Woche ist dazu noch Zeit. Dass Schwedens konservativ-rechtsliberale Regierung mitzieht, ist unwahrscheinlich – obwohl Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sie unlängst dazu aufgefordert haben. Die Strategie Schwedens war es von Anfang an, auf Dialog statt auf Verweigerung zu setzen.

Das dänische Misstrauen ist berechtigt. Denn das dänische Modell steht nicht nur von außen, durch die Mindestlohnvorgaben, sondern auch von innen vor Herausforderungen. Zum Beispiel, weil immer weniger Menschen Mitglieder in Gewerkschaften sind, was deren Verhandlungsposition schwächt. Weil Tarifabsprachen für immer weniger Menschen gelten. Und weil die neue Regierung öffentliche Stellen abbauen will, die das dänische Arbeitsmarktmodell maßgeblich stützen. 

Noch sind rund 80 Prozent der Beschäftigten (doppelt so viele wie in Deutschland) durch einen Tarifvertrag gesichert. Sinkt diese Quote deutlich, könnte die EU laut der geplanten Direktive eingreifen. Denn Dänemark und Schweden sind nicht per se ausgenommen – sondern deshalb, weil nur Länder einen EU-Mindestlohn einführen sollen, in denen es nicht ausreichend flächendeckende Tarifabsprachen gibt.

Um das in jedem Fall zu verhindern, will Dänemark auf Nummer sicher gehen und klagen.

Was geschützt werden soll? Die Arbeitgeberverbände schätzen am dänischen Modell, dass es so flexibel ist. Für viele, die von außen darauf blicken, kaum zu glauben, aber im Wohlfahrtsstaat Dänemark herrscht „hire and fire“. Und davon wird rege Gebraucht gemacht.

Kein Mindestlohn, dafür flächendeckende Tarifverträge, ausgehandelt unter fixen Spielregeln. Eine Regierung, die mit Arbeitgebendenverbänden und Arbeitnehmendenverbänden die Rahmen festlegt.

Kaum Kündigungsschutz – dafür werden Arbeitslose finanziell in der ersten Zeit auf hohem Niveau abgesichert und kommen in der Regel, auch durch intensiven Fortbildungseinsatz, schnell wieder in Arbeit.

Zudem ist die Erwerbslosigkeit in Dänemark traditionell niedrig, die Chancen auf neue Arbeit hoch – weil die Staatsquote eine der höchsten der Welt ist. Heißt: Der Staat beschäftigt viele Menschen selbst – unter anderem damit, anderen in Arbeit zu helfen.

Arbeitskräfte sind sozusagen eine hoch gehandelte Mangelware. Da ist ein Mindestlohn gar nicht nötig. Im Gegenteil: Gewerkschaften fürchten, wie eingangs festgehalten, dass Arbeitgebende graduell dazu umschwenken würden, nicht mehr nach Tarif, sondern nur noch den Mindestlohn zu zahlen.

Was passiert, wenn die Klage scheitert?

Die Klage gegen die Direktive macht der Kommission und den anderen Regierungen in Europa erneut deutlich, wie wichtig es aus dänischer Sicht ist, klarzumachen, dass ein Mindestlohn das gesellschaftliche Gefüge in Dänemark und Schweden in seinen Grundlagen erschüttern könnte. Wenn sie scheitert, bleibt immerhin dieser Eindruck.

Und vielleicht hätte es aus Gewerkschaftssicht auch etwas Gutes: Greift die Direktive schließlich eines Tages auch in Dänemark, setzt das voraus, dass das dänische Modell ohnehin versagt hat. Dass also deutlich weniger Tarifabsprachen getroffen werden. Deshalb könnte ein Scheitern der Klage für das dänische Modell sogar zum Katalysator werden: Um den Mindestlohn zu verhindern, steigen die Bemühungen, Tarifabsprachen zu erzielen.

Und was, wenn die dänische Klage tatsächlich Erfolg hat?

Die Angst, die EU könnte allmählich den dänischen Arbeitsmarkt regulieren, wäre verpufft. Der Jubel wäre nach dem Sieg gegen den Goliath Brüssel groß.

Doch der Riese Europa ist kein unheimliches Monster – sondern besteht aus vielen einzelnen Nationen, die fast alle über Jahre hart um einen Kompromiss auf dem Gebiet gerungen haben. Das Projekt EU-Mindestlohn würde für Abermillionen unterbezahlte Europäerinnen und Europäer platzen, nur weil das kleine Dänemark mal wieder eine Extrawurst knabbern will.

Wenn Dänemark das große Projekt EU-Mindestlohn im Alleingang zerschmettert, könnte das einen diplomatischen Scherbenhaufen hinterlassen. Die europäische Solidarität Dänemarks würde ernsthaft und zu Recht infrage gestellt werden.

Die dritte Option, dass sich alle anderen EU-Staaten plötzlich dazu entscheiden, das dänische Modell zu übernehmen, bleibt derweil leider eine Utopie. Schließlich ist Europa im Guten wie im Schlechten in Vielfalt geeint. Darauf setzt zumindest die Klage aus Dänemark. Und deshalb sollte Dänemark seine Extrawurst bekommen dürfen – und der Rest Europas seinen Mindestlohn.

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