Deutsche Bücherei

Zwei Bücher, die eine enorme Wucht entfalten

Zwei Bücher, die eine enorme Wucht entfalten

Zwei Bücher, die eine enorme Wucht entfalten

Tondern/Tønder
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Marie Medow empfiehlt das autobiografische Sachbuch „Isidor – Ein jüdisches Leben“ von Shelly Kupferberg. Foto: Karin Riggelsen

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In unserem Format „Buchtipp des Monats“ widmen wir uns jeweils einem Buch, das die Expertinnen der deutschen Büchereien vorstellen. Der Tipp für den März kommt von Marie Medow aus Tondern.

In diesem Monat kommt der Buchtipp aus Tondern. Die Leiterin der dortigen Deutschen Bücherei, Marie Medow, möchte Lesebegeisterten mit Geschichtsinteresse zwei Bücher ans Herz legen, die wohl kaum einen aktuelleren Bezug haben könnten.

Zwei Bücher, die zusammen einen weitreichenden Einblick in Biografien von Menschen – ob fiktional oder real – geben, deren Lebensläufe von politischen Entwicklungen bestimmt werden.

Beide Bücher nacheinander zu lesen hatte in Anbetracht der aktuellen politischen Situation eine besondere Wucht.

Marie Medow

Ausweglose Schicksale 

„Wo die Geister tanzen“ von Joana Osman erzählt die Geschichte einer Familie, die Vertreibung und Flucht erlebt. Ihr Weg führt von Jaffa in ein Flüchtlingslager in Beirut. Schnell versucht die Familie dann zunächst, ihr Glück in der Türkei zu finden. Mit der Staatsgründung Israels verliert sie schließlich ihren gesamten Besitz – der familiäre Zusammenhalt jedoch bietet eine Beständigkeit, die sie durch diese prägende Zeit trägt.

Die Geschichte macht die Ausweglosigkeit dieses Konflikts sehr deutlich, findet Medow. „Alle Seiten haben eine eigene Herleitung, die zu dem Desaster führt, welches es heute ist.“ Osmans Geschichte besteche durch die zeitliche Nähe, dank der die Leserin oder der Leser sich schnell in den Kontext einfinden könne.

In einer ausweglosen Lage findet sich auch der Charakter in Shelly Kupferbergs Sachbuch wieder. „Isidor – Ein jüdisches Leben“ erzählt die Geschichte der Vorfahren der Autorin, welcher sie sich durch lange, sorgfältige Recherchen genähert hat. Diese wahre Begebenheit trägt sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in dem Gebiet der heutigen Ukraine zu.

Ich habe die Bücher unter dem Eindruck des 7. Oktober des vergangenen Jahres gelesen. Und da fand ich den großen historischen Zusammenhang erschütternd.

Marie Medow

Der Protagonist des Romans, Isidor, wächst als eines von fünf streng orthodox erzogenen Kindern in der Gegend von Lemberg auf. Mit dem jeweiligen Schulabschluss zieht es die Geschwister nach Wien, wo die Familie eines Tages schlussendlich wieder versammelt ist. Zunächst scheint seine Biografie eine klare Erfolgsgeschichte zu sein: Er wird Kommerzialrat, Berater des österreichischen Staates, und so zum Multimillionär. 

„Isidor lebt das glanzvolle Wiener Leben der 20er-, 30er-Jahre“, erzählt Medow. Doch die Machtübernahme der Nazis, 1938, eröffnet die Falltiefe – die politischen Entwicklungen ebnen den Weg für einen rasanten gesellschaftlichen Absturz Isidors. Plötzlich schlägt dem zuvor hoch angesehene Kommerzialrat Brutalität und Ignoranz entgegen, die zu Folter und Tod führen.

Kombiniert eine besondere Wucht

Kupferberg behalte in ihrer Erzählweise eine Sachlichkeit bei – sie schaffe es, die Geschichte ohne das Einbinden des emotionalen Befindens zu erzählen, so Medow. „Diese kluge, sachliche Erzählweise lässt den Lesenden die Brutalität, die dem Protagonisten widerfährt, trotzdem ertragen“, findet sie.

Besonders berührt habe sie in diesem Kontext, wie liebevoll das geschwisterliche Verhältnis beschrieben und wie stark der Zusammenhalt der Geschwister geschildert wird. Medow spricht von einem Lese-Sog, der sie mitgerissen habe.

„Beide Bücher nacheinander zu lesen hatte in Anbetracht der aktuellen politischen Situation eine besondere Wucht“ beschreibt Medow ihr Leseempfinden. „Ich habe sie unter dem Eindruck des 7. Oktober des vergangenen Jahres gelesen, und da fand ich den großen historischen Zusammenhang erschütternd.“ Diese kombinierte Reihenfolge sei reiner Zufall gewesen, würde aber so gut ineinander übergreifen, dass sie diese weiterempfehlen möchte. 

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