Geschichte

Das vergessene Schicksal der Flensburger Sinti und Roma in der NS-Zeit

Das vergessene Schicksal der Flensburger Sinti und Roma in der NS-Zeit

Das vergessene Schicksal Sinti und Roma in der NS-Zeit

Ove Jensen/shz.de
Flensburg
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Die Sinti-Familie Weiß lebte in einem baufälligen Hinterhaus in der Norderstraße, ehe sie zwangsweise in eine Baracke am Stadtrand umgesiedelt und später nach Polen deportiert wurde. Foto: Museumsberg Flensburg

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In unwürdigen Zuständen mussten mehrere Familien ab 1935 einem „Zigeunerlager“ in der Valentinerallee leben, bevor sie 1940 nach Polen deportiert wurden.

Wer durch die Norderstraße geht, kann die Gedenktafel am Haus mit der Nummer 104 an der Einmündung der Norderfischerstraße kaum übersehen. Seit 2008 erinnert die Tafel an das Schicksal der Familie Weiß, die hier wohnte und 1940 nach Polen deportiert wurde.

Es ist ein dunkles Kapitel der Flensburger Stadtgeschichte, das über Jahrzehnte weitgehend unbeachtet blieb. Mindestens 44 Angehörige der Sinti und Roma sind 1940 über Hamburg ins Zwangsarbeitslager Belzec verschleppt worden, das in Polen nahe der heutigen Grenze zur Ukraine liegt. Mindestens die Hälfte von ihnen kam dort zu Tode.

Constanze Hafner, Lehrerin an der Flensburger Waldorfschule, nahm vor einiger Zeit an einem historischen Stadtspaziergang teil, der auch durch die Norderstraße führte. Auf der Gedenktafel las sie, dass die Familie Weiß 1935 zunächst in ein Lager am Stadtrand umgesiedelt wurde und zwar in die Valentinerallee – dort, wo sich heute die Waldorfschule befindet.

Von dieser Vorgeschichte des Schulgrundstücks wusste sie bis dahin nichts. Wie ihr ging es den meisten anderen Lehrern.

Hafner begann nachzuforschen, und über Broder Schwensen aus dem Flensburger Stadtarchiv kam sie in Kontakt Sebastian Lotto-Kusche, einem Historiker an der Europa-Universität. Lotto-Kusche war ebenfalls über die Gedenktafel in der Norderstraße gestolpert und hatte angefangen, sich ausführlich mit dem Thema zu beschäftigen.

Seine Erkenntnisse hat er in einem Aufsatz zusammengefasst, der im August in den Grenzfriedensheften des ADS-Grenzfriedensbundes erscheint. Parallel hat Constanze Hafner das Thema im Unterricht aufgegriffen, und Kunstlehrer Achim Langer hat eine Skulptur entworfen, die demnächst in Bronze gegossen und dann auf dem Schulgelände aufgestellt werden soll.

Bisher erinnert nichts in der Valentinerallee an die Baracken. Ganze Familien mussten hier in einem einzigen Raum von 13 Quadratmetern hausen. Es gab weder Strom noch Wasser. Als Toiletten dienten zwei Eimer für insgesamt bis zu 50 Personen.

Die Familie Weiß hatte auch schon in der Norderstraße in sehr schlichten Verhältnissen gewohnt. Sie wurde von den Behörden offenbar genau beobachtet – so lässt sich in Polizeiakten nachlesen, dass die Familie unauffällig lebte und die Kinder regulär zur Schule gingen. Nach der Zwangsumsiedlung an den Stadtrand wurde das Haus abgerissen.

Renovierte Baracken an Polizisten vermietet

Fotos von den Baracken in der Valentinerallee (Ecke Steinfelder Weg) hat Sebastian Lotto-Kusche bisher nicht gefunden. „Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass es noch irgendwo Bilder gibt.“ Möglicherweise auch aus den Jahren nach dem Krieg. Die Baracken wurden nach der Deportation der Sinti und Roma renoviert und an Polizeibeamte vermietet. Abgerissen wurden sie erst Jahre später, als das benachbarte Betonwerk expandierte.

Zunächst keine Entschädigung für NS-Opfer

Der Historiker hat auch erforscht, wie es den Überlebenden nach 1945 erging. Die wenigstens kehrten zurück nach Flensburg. Sie erfuhren weiterhin Diskriminierung. Eine finanzielle Entschädigung wurde vielen von ihnen vom Landesentschädigungsamt in Kiel verwehrt.

Der Bundesgerichtshof befand in einem Urteil von 1956, das Lotto-Kusche als skandalös bezeichnet, die Umsiedlung der Sinti und Roma sei „nicht entschädigungsrelevant“. Die Richter wollten keine rassisch motivierte NS-Verfolgung erkennen, für die Maßnahmen seien „sicherheitspolitische Gründe“ maßgeblich gewesen. Es dauerte Jahre, bis das Urteil revidiert wurde.

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