Abhängigkeit

Schleswig-Holstein hat die meisten Alkoholiker: Warum das für Experten eine gute Nachricht ist

Schleswig-Holstein hat die meisten Alkoholiker

Schleswig-Holstein hat die meisten Alkoholiker

Inga Gercke/shz.de
Kiel
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Bei Männern und Frauen in Schleswig-Holstein wird deutschlandweit am häufigsten eine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert. Foto: Alexander Heinl/shz.de

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In Schleswig-Holstein leben die meisten Alkoholabhängigen in Deutschland – das zumindest zeigen Zahlen aus dem Alkoholatlas 2022. Einige Experten trauen dieser Aussage nicht. Warum die hohen Zahlen auch positiv ausgelegt werden können.

Laut Alkoholatlas Deutschland leben in Schleswig-Holstein die meisten Menschen, bei denen eine Alkoholsucht diagnostiziert wurde. Bei 122 Frauen und 349 Männern wurde im vergangenen Jahr offiziell eine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert. Der bundesweite Durchschnitt bei Frauen liegt bei 82 und bei Männern bei 239.

Ist die hohe Zahl an Diagnosen positiv zu werten?

Dass in Schleswig-Holstein aber tatsächlich mehr getrunken wird als im Rest des Landes, zweifeln Experten an. Und noch mehr: „Die Frage ist ja, ob die hohe Zahl nicht vielleicht auch positiv zu bewerten ist“, sagt Björn Malchow von der Landesstelle für Suchtfragen. Denn wer eine Diagnose hat, dem könne gezielte Hilfe angeboten werden. Und: „Ich bezweifle, dass in Schleswig-Holstein wirklich mehr getrunken wird als anderswo“, sagt er. 

Diese Symptome weisen auf eine Alkoholabhängigkeit hin

Wie aber kommen die vergleichsweise hohen Zahlen zustande? Federführend bei der Studie ist das Deutsche Krebsforschungszentrum (dkfz). Das dkfz wiederum erhält die Zahlen vom Statistischen Bundesamt. Eine Vergleichbarkeit zwischen den Bundesländern sei gegeben, so Katrin Schaller vom dkfz. „Alle Daten werden in allen Bundesländern in derselben Weise erhoben“.

Für die Diagnose der Alkoholabhängigkeit wird in der Regel ein Katalog von sechs Kriterien herangezogen. Ein Alkoholabhängigkeitssyndrom bestehe dann, wenn während des vergangenen Jahres mindestens drei der folgenden Kriterien gleichzeitig vorlagen:

Einige Krankenhäuser sind von der Meldepflicht ausgenommen

Kliniken müssen jährlich entsprechende Diagnosen der Krankenhauspatienten übermitteln. Ausgeschlossen davon seien Krankenhäuser im Straf- oder Maßregelvollzug und Polizeikrankenhäuser. Bundeswehrkrankenhäuser nur, wenn sie auch Zivilpatienten behandeln. Aber die dkfz bleibt dabei: „Innerhalb Deutschlands sind die Daten uneingeschränkt vergleichbar.“

Unterdiagnostizierung in anderen Ländern

Björn Malchow hat noch eine andere Begründung: „Die Zahlen könnten auch etwas mit den diagnostizierenden Ärzten zu tun haben“, sagt er.

Auch Hans-Jürgen Rumpf, Sucht-Experte am Zentrum für Integrative Psychiatrie der Universität Lübeck, ist der Meinung, dass es vor allem an den Ärzten in Schleswig-Holstein liege, die fleißig eine Alkoholabhängigkeit attestieren. Denn: „Viele Ärzte fragen gar nicht so gerne nach. In manchen Fällen spielt sicher auch die Scham eine Rolle“, sagt er. Er spricht von einer möglichen „Unterdiagnostizierung“ in anderen Ländern.

Hohe Dunkeziffer an Alkoholabhängigen

Er sowie auch Björn Malchow gehen von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus. „Wir sehen nur, wer sich in Schleswig-Holstein Hilfe bei einer Beratungsstelle sucht. Von denen wissen wir nur den Grund, nämlich Alkohol, aber nicht, ob sie abhängig sind. Was mit der großen Zahl ist, die sich gar keine Hilfe holen, wissen wir nicht. Statistisch gesehen müssten es aber deutlich mehr sein: zirka 58.000“, sagt Malchow.

Hohe Zahl kann auch ein Qualitätsmerkmal sein

Die hohen Zahlen sprechen also eher für eine gute Diagnosegewohnheit der schleswig-holsteinischen Ärzte. Rumpf spricht sogar von einem Qualitätsmerkmal. Patienten kämen meist mit Folgeerkrankungen in ein Krankenhaus. Es liege dann am Arzt, beispielsweise eine Leberzirrhose oder eine Entzündung der Bauspeicheldrüse mit Alkoholmissbrauch in Verbindung zu bringen. „Man will ja auch niemanden in eine Ecke stellen“, so Rumpf. Eine Alkoholabhängigkeit sei nach wie vor mit Vorurteile behaftet.

Rumpf bleibt dabei: „Auf jeden Fall können die Zahlen im Krankenhaus nicht durch regionale Unterschiede erklärt werden“, sagt er.

Alkoholkonsum und regionale Unterschiede

Gleichzeitig schließe er regionale Unterschiede auch nicht aus: „Innerhalb Deutschlands wird unterschiedlich viel getrunken. Zum Beispiel stärker im städtischen Raum. Es gibt es zum Teil einen Trend zu höherem Konsum in südlichen Bundesländern, dieser Trend ist aber nicht einheitlich.“

Das Gerücht, je nördlicher man kommt – gerade in Skandinavien – würden die Menschen wegen der ständigen Dunkelheit öfter zur Flasche greifen, widerlegt er.

Deutschland ist ein Hochkonsumland

Und auch wenn die hohen Zahlen in Schleswig-Holstein auf ein gutes Diagnoseverhalten hinweisen: „Grundsätzlich gilt: Deutschland ist trotzdem ein Hochkonsumland“, sagt Malchow. So würden mehr als 10 Liter reinen Alkohols pro Kopf und Jahr getrunken. 

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