Geschichte

Ostseesturmflut von 1872: Als vor 150 Jahren das mächtigste Hochwasser wütete

Ostseesturmflut: Als vor 150 Jahren das mächtigste Hochwasser wütete

Als vor 150 Jahren das mächtigste Hochwasser wütete

dpa/shz.de
Schleswig-Holstein
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So sah es nach dem 13. November 1872 im Eckernförder Jungfernstieg, Ecke Mühlenstraße aus. Foto: Stadtarchiv/shz.de

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Die Jahrtausendflut von 1872 gilt bis heute als die schwerste Hochwasserkatastrophe an der westlichen Ostsee. Mehr als 270 Menschen sterben, viele Tausend werden obdachlos.

Die Bewohner der deutschen und dänischen Ostseeküste traf die Katastrophe weitestgehend unvorbereitet. Anders als die stürmische Nordsee gilt das Binnenmeer als eher friedlich. Doch in der Nacht auf den 13. November 1872, vor 150 Jahren, kam es an der westlichen Ostsee zu einer Sturmflut mit bis heute nicht wieder erreichten Ausmaßen.

271 Menschen starben, gut 15.000 Menschen wurden obdachlos, Zehntausende Stück Vieh ertranken in den Fluten, 133 Schiffe havarierten. Betroffen waren zahlreiche Orte von Mecklenburg-Vorpommern über Schleswig-Holstein bis nach Dänemark. Dörfer wurden zerstört, an Landengen kam es zu Durchbrüchen. Usedom etwa wird in zwei Teile gerissen. Eckernförde und Lübeck beispielsweise standen unter Wasser.

„Das Ostseesturmhochwasser vom 13. November 1872 gilt als die schwerste Hochwasserkatastrophe in der westlichen Ostsee“, schreiben Expertinnen des Deutschen Wetterdienstes und des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) 2008 in einer Rekonstruktion der damaligen Situation. „Die Wasserstände überstiegen dabei deutlich sämtliche seinerzeit bekannten Werte, und seitdem sind auch keine vergleichbaren Sturmhochwasser in diesem Bereich aufgetreten.“

Wetterlage nicht mal ungewöhnlich: Flensburg mehr als drei Meter über Null

Die Wetterlage, die die Katastrophe damals auslöste, ist eigentlich keine ungewöhnliche, wie Sven-Michael Veit vom Museum für Regionalgeschichte in Scharbeutz sagt. Das Museum zeigt noch bis Ende März 2023 eine umfassende Schau zur Katastrophe mit vielen Bildern und Augenzeugenberichten, aber auch Informationen zum Klimawandel und Küstenschutz. Auch in anderen damals betroffenen Orten gibt es Ausstellungen und Veranstaltungen rund um das Katastrophendatum.

Zur Katastrophe kommt es demnach durch die tagelange Dauer und die Wucht des Sturmes: Vor dem verheerenden Sturmhochwasser gab es eine Sturmflut an der Westküste, mehr als eine Woche lang drückt Wind aus Südwest das Wasser der Ostsee in Richtung Baltikum und Finnland. Die Pegel an der Ostseeküste Schleswig-Holsteins und Mecklenburg-Vorpommerns sinken am 6./7. November auf einen Meter unter mittlerem Wasserstand.

Am 10. November lässt der Südwestwind nach. Es ist die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Einen Tag später entwickelt sich ein Sturm aus Nordost zu einem mehrtägigen Orkan. Das Wasser der Ostsee, ein „Wellenberg aus Finnland“ wie Veit sagt, kommt mit Macht zurück: Vor Usedom und Rügen steigen die Pegel um rund zwei Meter, in Travemünde werden 3,3 Meter über dem mittleren Wasserstand gemessen, in Kiel 3,17 Meter und in Flensburg 3,27 Meter.

Wenn man bedenkt, dass die Kategorie sehr schwere Sturmflut an der Ostsee Pegelstände ab zwei Meter über mittlerem Wasserstand bedeuteten, „dann sind drei Meter schon wirklich eine Katastrophe“, sagt Veit.

Es ist auch das bisher letzte Hochwasserereignis, bei dem in Schleswig-Holstein Menschenleben zu beklagen waren.

Derzeit könne keine Zunahme der Sturmhochwasserintensität an der deutschen Ostseeküste festgestellt werden, sagte die Sprecherin. Doch Entwarnung gibt sie nicht: „Dies wird sich in Zukunft durch den beschleunigten Meeresspiegelanstieg infolge des menschengemachten Klimawandels ändern.“

Was würde heute passieren?

Die Küstenländer legen den Angaben zufolge daher bei ihren Küstenschutzplanungen das SSP-8.5 Szenario (Weiter-wie-bisher-Szenario) zugrunde. Danach ist von einem Meeresspiegelanstieg von etwa 0,75 Metern bis Ende dieses Jahrhunderts und 1,25 Metern bis Mitte des nächsten Jahrhunderts auszugehen. „Die Hochwasserereignisse von 2017 und 2019 kämen dadurch zu Mitte des nächsten Jahrhunderts in die Größenordnung des Sturmhochwassers von 1872. Insofern stellt der Meeresspiegelanstieg eine gewaltige Herausforderung für den Küstenschutz an der Ostsee dar.“

Denn obwohl das Schutzniveau seit damals stark verbessert wurde, „würde ein mit dem damaligen Sturmhochwasser vergleichbares Ereignis heute zu immensen Schäden an der Ostseeküste führen“, heißt es im Generalplan Küstenschutz des Landes Schleswig-Holstein. Bereits die Sturmfluten von Januar 2017 und Januar 2019 mit Höchstwasserständen von „nur“ etwa 1,8 Metern höher als normal führten demnach zu Schäden in Millionenhöhe unter anderem an touristischer Infrastruktur.

Küstenschutz als Generationenaufgabe

Schleswig-Holsteins Klimaschutzminister Tobias Goldschmidt betonte, die Küsten und ihr Schutz stünden mit Blick auf die Klimakrise und den damit verbundenen Meeresspiegelanstieg vor gewaltigen Herausforderungen. Es gehe um die Frage, wie die Menschen an den Küsten auch in den nächsten Jahrzehnten in Sicherheit leben könnten. Schon heute würden viele Millionen unter anderem für den Bau von starken und zukunftsfesten Klimadeichen und die Verstärkung von Warften auf den Halligen investiert. „Guter Küstenschutz ist für Schleswig-Holstein eine Generationenaufgabe, die uns alle angeht.“

„Der Küsten- und Hochwasserschutzschutz ist eine Daueraufgabe, die nie abgeschlossen sein wird“, sagte auch Mecklenburg-Vorpommerns Umweltminister Till Backhaus (SPD) Ende August mit Blick auf eine Veranstaltungsreihe zum Küstenschutz anlässlich des Jahrestages der Sturmflut von 1872.

„Insbesondere der steigende Meeresspiegel infolge des Klimawandels zwingt uns hier ständig Anpassungen vorzunehmen und technisch immer auf dem neuesten Stand zu sein.“ Den Angaben zufolge investiert Mecklenburg-Vorpommern rund 20 Millionen Euro pro Jahr in den Küstenschutz. Laut Backhaus reichen diese Summen angesichts steigender Meeresspiegel zukünftig nicht aus.

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