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Lehrermangel an Schulen in SH: Expertin sieht „sehr ernste“ Lage

Lehrermangel an Schulen in SH: Expertin sieht „sehr ernste“ Lage

Lehrermangel an Schulen: Expertin sieht „sehr ernste“ Lage

Frank Jung/shz.de
Flensburg
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Damit es genügend qualifizierte Berufseinsteiger in den Lehrerberuf gibt, muss die Politik nach Einschätzung von Experten vieles ändern Foto: dpa/Philipp von Ditfurth

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Wenn es keine Abstriche an der Unterrichtsversorgung geben soll, sieht die Kieler Erziehungswissenschaftlerin Prof. Ilka Parchmann SH vor einer Herkulesaufgabe. Was sich bei der Suche nach Personal für Schulen und seiner Qualifizierung ändern muss, verrät sie im Interview.

Wie ausgeprägt ist der Lehrermangel, eingeordnet auf einer imaginären Skala von eins bis zehn?

Es geht bundesweit sicher in Richtung zehn. In einigen Bundesländern ist die Lage sogar noch dramatischer als in Schleswig-Holstein.

Was lässt Sie an die obere Grenze der Skala gehen?

Zum einen ist der Mangel in einigen Fächern und Schulformen schon jetzt akut. Zum anderen ist absehbar, dass sich das Ganze in den nächsten Jahren noch zuspitzen wird, wenn man sich die Pensionierungszahlen und die Zahlen der bisherigen Studienabsolventen anschaut. Wir haben im Augenblick eine Situation, die wir wirklich sehr ernst nehmen müssen. In der Vergangenheit wurden Mängel vielfach mit Notmaßnahmen bekämpft. Wir müssen nachhaltig andere Wege einschlagen.

 Welche „Nur-Notmaßnahmen“ in der Vergangenheit kritisieren Sie?

Man hat versucht, Menschen dauerhaft in Schulen zu holen, die nicht für eine Tätigkeit als Lehrer qualifiziert waren. Das hat dann mit dafür gesorgt, dass später weniger Menschen mit einer Lehrerausbildung an die Schulen kommen konnten.

Das heißt: Sie sind also skeptisch gegenüber Quer- und Seiteneinsteigern?

Das bin ich nicht, wenn Sie die Personen meinen. Wir sehen in der Allianz für Lehrkräftebildung, dass diese viel Wertvolles mitbringen. Sie haben andere berufliche Hintergründe, sie haben Lebenserfahrung. Durchaus skeptisch aber sind wir mit Blick auf die Qualifizierungswege, auf denen diese Personen derzeit in die Schulen kommen. Die Universitäten mit ihren Lehramtsstudiengängen sind da überhaupt nicht eingebunden. Das bedeutet: Diesen zukünftigen Lehrkräften fehlt eine ganze Menge von dem, was man normalerweise in einem Lehramtsstudium kennenlernt.

Noch viel dramatischer ist etwas anderes - nicht bei den Quer- und Seiteneinsteigern, sondern bei den - wenn Sie so wollen - normalen, in der Regel jungen Lehramtsstudierenden.

Nämlich was?

Sehr viele von ihnen sind schon vor Abschluss ihres Studiums mit voller Verantwortung in den Schulen tätig - also vor dem Referendariat beziehungsweise Vorbereitungsdienst. Mitzuwirken wäre ja durchaus sinnvoll, aber sie haben oft bereits viel Verantwortung für die Planung ihres Unterrichts, dafür, wie er abgehalten wird und wie Schüler benotet werden. Da gibt es überhaupt keine Qualitätssicherung, überhaupt keine Rückkopplung. Erste Betroffene überlegen, ihr Studium abzubrechen - weil sie sich einfach überfordert fühlen in diesem unbegleiteten Einsatz. Das macht uns sehr, sehr große Sorgen. Da müssen wir dringend handeln.

Nur würde ohne diese stille Reserve noch mehr Unterricht ausfallen als ohnehin schon.

Das sehen wir auch. Wir erkennen natürlich an, dass die Schulleitungen hier eine große Notlage haben. Trotzdem: Das hat sich in einer solchen Art und Weise verselbstständigt, dass wir es nicht mehr tolerieren können. Wir müssen für diese Personen ein Begleitsystem an den Hochschulen aufbauen. Das wird eine erste Kernaufgaben der Allianz sein. Also: nicht zu sagen das geht gar nicht, aber zu sagen: So geht es nicht, sondern so. Wir werden ein Konzept erarbeiten, wie man Studierende an den Schulen begleiteter einsetzen kann - mit regelmäßigerer Unterstützung von zum Beispiel pensionierten Fachlehrkräften und auch von Hochschulseite. Dafür braucht es natürlich zusätzliche Ressourcen.

Auch bisher schon hat es auf Landesebene ein Gremium gegeben, das sich um den Lehrernachwuchs kümmern sollte - offenbar ohne ausreichenden Erfolg. Was macht Sie zuversichtlich, dass die Aufgabe in Regie der neuen Allianz für Lehrkräftebildung besser gelingt?

Sie geht einen Schritt weiter, kann programmatischer arbeiten als frühere Gremien. Sie ist mit einem sehr klaren Bekenntnis aller relevanten Akteure hinterlegt und hat explizit den Auftrag, neue Konzepte zu erarbeiten. Und sie ist dafür auch im Hochschulgesetz verankert. Zudem hat uns das Land zumindest für die Anfangsphase mit zusätzlichen Finanzen ausgestattet, mit denen wir Maßnahmen entwickeln können. Diese werden auch zukünftig benötigt, das sieht auch das Bildungsministerium.

An welchen Stellschrauben für mehr Lehrer-Nachwuchs empfehlen Sie, zuerst zu drehen?

Sehr zeitnah werden wir uns in der Allianz angucken, ob und wie wir bei der schulischen Qualifikation der Seiten- und Quereinsteiger nachsteuern müssen. Parallel werden wir Werbemaßnahmen starten, um vor allem junge Leute für den Lehrerberuf zu begeistern. Das öffentliche Bild ist derzeit leider eher negativ konnotiert. Wir möchten stärker herausstellen, dass das ein toller Beruf ist, in dem man viel für die Gesellschaft, viel für Kinder und Jugendliche tun kann - auch wenn wir natürlich wissen, dass die Situation derzeit herausfordernd ist. Dabei geht es uns auch darum, stärker Studienanfänger zu gewinnen, deren Eltern nicht selbst studiert haben. Das bringt noch einmal andere Erfahrungshorizonte in die Schulen hinein.

Und konzeptionell?

Dann müssen wir etwas tun gegen die hohen Abbruchquoten in einigen Lehramtsstudiengängen. Es muss mehr Flexibilität geben, Lehrkräfte an verschiedenen Schularten einzusetzen. Und mittelfristig setzen wir darauf, dass es in späteren Lebensphasen reguläre Zugänge in die Schule hinein und auch wieder hinaus, etwa in die Wissenschaft, gibt. Das gelingt im Ausland wesentlich besser als in Deutschland - verbunden mit einer Professionalisierung der Betroffenen. Angesichts bisheriger Schnellschüsse bei uns kann man hingegen derzeit eine Deprofessionalisierung des Berufs befürchten.

In welchen Fächern gibt es hohe Abbruchquoten und woran liegt das?

Vor allem in Mathe und Physik. Es gibt in den Studiengängen sehr hohe fachliche Anforderungen. Ich sage nicht, dass Lehramtsstudierende diese nicht erreichen können. Aber sie erwarten sie so nicht. Sondern sie erwarten, dass sie von Anfang an lehramtsorientiert arbeiten können. Dann frustriert es einige, dass sie zunächst sehr viel Fachmodule belegen müssen. Die Studiengänge müssten von Anfang an mehr Lehramtsorientierung aufzeigen, ohne das fachliche Niveau abzusenken.

Was halten Sie von dem provokanten Vorschlag, die extrem hohe Teilzeit-Quote von Lehrkräften herunterzufahren? Das könnte sofort große personelle Ressourcen mobilisieren.

Das müssen Sie mit dem Bildungsministerium diskutieren. Das wären dienstrechtliche Regelungen, die dort getroffen werden. Deshalb ist es kein Thema für Allianz.

Aber eine Meinung werden Sie doch dazu haben.

Es ist ein Spagat: Auf der einen Seite fehlen extrem Personen, auf der anderen Seite müssen sich die Lehrkräfte im Beruf so wohlfühlen, dass man sie dort behält. Man muss deshalb genauer gucken: Warum gehen so viele Lehrkräfte auf Teilzeit? Allein wegen familiärer Aufgaben? Dies muss natürlich auch weiterhin möglich sein! Oder wegen mangelnder Berufszufriedenheit und Drucksituationen? Kann man im Alltag Dinge verbessern, damit diese Teilzeitbedürftigkeit nicht mehr so empfunden wird?

Sind mehr Geld oder sonstige bessere Konditionen ein Mittel, um das Interesse am Lehrerberuf zu fördern?

Im internationalen Vergleicht ist die Bezahlung in Deutschland absolut gut. Wohl aber lässt sich hinterfragen, dass die Arbeitszeit der Lehrkräfte allein über ihre Unterrichtsstunden bemessen wird. Es gibt aber für Lehrkräfte sehr viele weitere Aufgaben: etwa die Kontakte zu Eltern, die Entwicklung von Schule oder die Zusammenarbeit mit außerschulischen Lernorten. Das muss für die sehr Engagierten auch anerkannt werden.

Oder ist es besser, Lehrkräfte für mehr Attraktivität des Berufs von manchen Aufgaben zu entlasten?

Das muss dazukommen. Oft liegen Aufbau und Betreuung der digitalen Infrastruktur noch in den Händen von Lehrkräften. Das ist aber keine typische Lehrertätigkeit und nimmt ihnen Zeit, sich um Schüler und den eigentlichen Unterricht zu kümmern. International sehr etabliert sind beispielsweise in den naturwissenschaftlichen Fächern technische Assistenten. Die bereiten die Experimente vor und begleiten diese als zweite Person im Unterricht. So etwas bräuchten wir auch.

Wo verorten Sie den größten Personalmangel?

Einen wirklich großen Mangel in vielen Fächern sehe ich an den Gemeinschaftsschulen, da müssen wir unbedingt tätig werden. Das liegt auch daran, dass viele Studienanfänger selbst von Gymnasien kommen und das dann für ihren eigenen Beruf wieder wählen. Ich glaube, hier können wir mit mehr Beratung von Studienanfängern noch einiges an Umorientierung erreichen. Darüber hinaus gibt es einen Mangel an Förderzentren und Berufsbildenden Schulen in einzelnen Sparten und an den Gymnasien in Mathe, Physik, Chemie und Informatik. Regional liegt die Herausforderung nicht in Kiel, Flensburg oder Lübeck, aber an der Westküste oder in Lauenburg. Die Nachwuchskräfte möchten nach Abschluss ihres Studiums ihre bisherige Sozialstruktur aufrecht erhalten und die Freizeitangebote der Städte wahrnehmen.

Glauben Sie nicht, dass die besondere Beliebtheit des Gymnasiallehramts schlicht daran liegt, dass die Leute dort mit einem einfacher zu handhabenden Klientel rechnen als an Gemeinschaftsschulen?

Das ist ja einerseits auch nicht ganz von der Hand zu weisen - aber es nun auch bei weitem nicht so, dass an allen Gemeinschaftsschulen nur schwierige Schüler wären. Nein, die meisten Studienanfänger fürs Lehramt waren einfach noch nie an einer solchen Schule.

 

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