Geschichte

Grenzen überwinden: Wie das Wels-Stauning Abkommen die deutsch-dänische Geschichte prägte

Vor 100 Jahren beschlossen: Das Wels-Stauning Abkommen

Vor 100 Jahren beschlossen: Das Wels-Stauning Abkommen

Wilfried Lagler
Apenrade/Aabenraa
Zuletzt aktualisiert um:
Otto Wels bei einer Rede um 1930. Der Sozialdemokrat bot Hitler die Stirn. Auf der letzten freien Rede im Reichstag 1933 sagte er in Gegenwart von SA-Männern: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Foto: Akg-Images/Ritzau Scanpix

Diesen Artikel vorlesen lassen.

100 Jahre später: In einer Zeit politischer Spannungen und nationaler Auseinandersetzungen zeichnet sich das Abkommen von 1923 als ein bemerkenswertes Beispiel für grenzüberschreitende Zusammenarbeit aus. Der Historiker Wilfied Lagler beschreibt, wie die damaligen Führer der Sozialdemokratie in Dänemark und Deutschland einen entscheidenden Schritt zur Anerkennung und Stabilisierung der deutsch-dänischen Grenze unternahmen.

Nach den Volksabstimmungen vom 10. Februar und 14. März 1920 in den Abstimmungszonen Nord- und Mittelschleswig wurde gemäß den Bestimmungen des Friedensvertrags von Versailles von 1919 die noch heute gültige Staatsgrenze zwischen dem Königreich Dänemark und Deutschland geschaffen.

Die Teilung des ehemaligen Herzogtums Schleswig in einen kleineren nördlichen und größeren südlichen Teil führte beiderseits der neuen Grenze zur Bildung von unterschiedlich großen nationalen Minderheiten.

Aber nicht nur bei den beiden Minderheiten, sondern auch darüber hinaus kam es noch längere Zeit in der politischen Öffentlichkeit beider Staaten zur Unzufriedenheit über die neue Staatsgrenze, ja zu grenzrevisionistischen Bestrebungen.

Sozialdemokratie auf der Suche nach Frieden in unruhigen Zeiten

Heute scheint es nahezu vergessen zu sein, dass damals führende Vertreter der Sozialdemokraten in Dänemark und im Deutschen Reich zu einer politischen Verständigung, ja sogar zu einem gemeinsam formulierten wegweisenden „Grenzabkommen“ gelangten, auch wenn es bei den lokalen bzw. regionalen Vertretern dieser beiden Parteien noch längere Zeit nationalistische Äußerungen gab.

Bereits im Frühjahr/Sommer 1917 fand in Stockholm eine Konferenz verschiedener sozialistischer Parteien Europas statt. Hierbei ging es in erster Linie um die Frage, wie es zu einem Völkerfrieden angesichts des seit 1914 andauernden Ersten Weltkrieges kommen könne. Dieses Stockholmer Friedenstreffen wird in der zeitgeschichtlichen Forschung des Öfteren erwähnt.

Otto Wels

  • Geburtstag und -ort: 15. September 1873, Berlin, Deutschland
  • Todestag und -ort: 16. September 1939, Paris, Frankreich
  • Beruf: Sozialdemokratischer deutscher Politiker
  • Wichtige Ämter:
    • SPD-Vorsitzender (1919 - Zeit des Exils während der NS-Herrschaft)
    • Reichstagsabgeordneter des Deutschen Kaiserreichs (1912-1918)
    • Mitglied der Weimarer Nationalversammlung (1919-1920)
    • Reichstagsabgeordneter der Weimarer Republik (1920-1933)
  • Bedeutende Leistungen:
    • Führungsrolle in der SPD während der Weimarer Republik und im Exil
    • Maßgebliche Rolle bei der Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes der NSDAP
    • Aufbau der Exilorganisation der SPD (Sopade) in Prag

Nicht alle Genossinnen und Genossen in Dänemark und Deutschland waren sich zunächst einig

Zu einer weiteren Konferenz kam es dann erst im Februar 1919 in Bern. Inzwischen waren die am 6. April 1918 formulierten „Vierzehn Punkte“ in einer Rede des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson in aller Munde, in denen es unter anderem um das vielerorts lebhaft begrüßte Selbstbestimmungsrecht der Nationen ging.

Im Hinblick auf die Kontakte zwischen den deutschen und dänischen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind vor allem zwei bedeutende Politiker zu nennen. Der eine ist Thorvald Stauning, seit 1910 Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Dänemarks und später, von 1924 bis 1926 und von 1929 bis 1942, Regierungschef (Staatsminister) in Kopenhagen. Sein Name steht bis heute vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung des dänischen Wohlfahrtsstaates.

Auf deutscher Seite ist es der gleichaltrige Otto Wels (1873-1939), seit 1913 Mitglied im Parteivorstand der SPD und von 1920 bis 1933 Abgeordneter im Berliner Reichstag. Am 23. März 1933 gehörte er zu den wenigen mutigen Reichstagsabgeordneten, die ihre Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz des Reichskanzlers Adolf Hitler verweigerten.

Erste Gespräche zwischen den dänischen Sozialdemokraten und SPD-Vertretern aus Flensburg fanden am 20./21. Juni 1921 in Kopenhagen statt. Die Flensburger Vertreter waren wohl – anders als der Parteivorstand in Berlin – auf eine mögliche Grenzrevision aus. Auch in Dänemark war die Meinung im Parteienspektrum nicht einheitlich. Eine Fortsetzung dieses Treffens fand dann im Sommer bzw. Herbst 1921 in Berlin statt, bei dem es zu einer Art Resolution bezüglich der Anerkennung der neuen Staatsgrenze ab.

Thorvald Stauning

Thorvald Stauning

  • Geburtstag und -ort: 26. Oktober 1873, Kopenhagen, Dänemark
  • Todestag und -ort: 3. Mai 1942, Kopenhagen, Dänemark
  • Beruf: Sozialdemokratischer Politiker und Staatsmann
  • Wichtige Ämter:
    • Dänischer Staatsminister (Ministerpräsident) (1924-1926, 1929-1942)
    • Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Dänemarks (1910-1939)
    • Mitglied des Kopenhagener Stadtrats (1913-1925), Vorsitzender (1919-1924)
    • Kontrollminister (1916), Sozial- bzw. Arbeitsminister (1918-1920)
  • Bedeutende Leistungen:
    • Erster Sozialdemokrat als dänischer Regierungschef
    • Führte Dänemark durch die Weltwirtschaftskrise
    • Verwandelte Dänemark in einen sozialen Wohlfahrtsstaat
    • Wahrte strikte Neutralität gegenüber dem Deutschen Reich während der Besatzung im Zweiten Weltkrieg

Grenzabkommen am 25. November 1923 in Flensburg

Erst bei einem erneuten Treffen in Flensburg am 25. November 1923 kam es schließlich zu einem wegweisenden, von den verständigungsbereiten Politikern Thorvald Stauning und Otto Wels unterzeichneten „Grenzabkommen“. Es handelte sich hierbei natürlich nicht um einen Staatsvertrag zwischen Deutschland und Dänemark, sondern eher um eine Art der politischen Verständigung zwischen den beiden Parteien und ihren Vorständen.

Ein Blick in den Text dieses Abkommens zeigt, dass die betreffenden Politiker vielerlei Themen bei ihren Gesprächen behandelten.

„Chauvinistische Agitation“ vor 100 Jahren „verurteilt und bedauert“

Die auf beiden Seiten der Grenze wahrzunehmende „chauvinistische Agitation“ wurde von ihnen entschieden „verurteilt und bedauert“. Gäbe man diesen Kreisen nach, würde es nur zu neuen nationalen Auseinandersetzungen zwischen beiden Staaten kommen, die langsam in Gang kommende Verständigung wäre gestört und Ergebnis wären „neue(n) Reibungen und neues Unheil für die Grenzbevölkerung der betreffenden Landesteile“.

Dieses wollten weder die dänische Arbeiterklasse noch die damalige Regierung in Kopenhagen unter der Leitung von Staatsminister Niels Thomasius Neergaard (Venstre) bewirken, wie es in dem Text heißt.

Deutsche Seite: Die Grenze steht fest

Ebenso betonten die Vertreter der SPD, dass „die deutsche Sozialdemokratie kategorisch alle auf eine Wiedereroberung des jetzt Dänemark zugesicherten Gebietes“ gerichteten Bestrebungen ablehne.

Das von Stauning und Wels unterzeichnete Abkommen war recht scharf formuliert und richtete sich „mit aller Kraft gegen die völkerverhetzende Tätigkeit der Chauvinisten“ auf beiden Seiten der neuen Staatsgrenze. Diese sei „als gesetzlich geltende Grenze“ anzuerkennen.

Minderheiten sollten durch Gesetze geschützt werden

Gewünscht wurde nicht nur „die bestmöglichste Nachbarschaft zwischen unseren beiden Völkern“ und ein „brüderliches Zusammenwirken der Arbeiterklassen unserer beiden Länder“. Was die Behandlung der beiderseitigen nationalen Minderheiten betreffe, so sei der „einzige wirksame Schutz (…) der durch staatliche Gesetze gewährleistete“.

Es sei nichts anderes als eine „moralische(n) Pflicht“, dass die „berechtigten Ansprüche(n) der nationalen Minderheiten … hinsichtlich kultureller Rechte auf gleichen Fuß“ zu stellen seien.

Aber trotz dieser bemerkenswert klaren Aussagen gab es auch weiterhin vielerlei Widerstände gegen die neue Grenze, sogar auf Seiten der SPD, vor allem auf regionaler Ebene. So kann man zu dem Schluss kommen, dass das „Grenzabkommen“ zwischen Otto Wels und Thorvald Stauning konkret zunächst nichts an Verbesserungen gebracht hat.

Während die Regierung in Kopenhagen gegenüber der deutschen Minderheit in Nordschleswig eine überwiegend liberale Haltung vertrat, dauerte es noch einige Jahre, bis zumindest im Preußischen Schulerlass von 1928 auf kultureller Ebene etwas Wegweisendes für die Förderung der dänischen Minderheit südlich der Grenze formuliert wurde.

Der darin enthaltene Satz „Däne oder Deutscher ist, wer will“ ist dann im Laufe der Zeit geradezu zu einem rechtlichen und politischen Axiom geworden.

Thorvald Stauning
1930: Thorvald Stauning bei der Enthüllung des Genforenings-Steins in Sonderburg (Sønderborg). Die Aufnahme ist archiviert in Museum Sønderjyllands Mediearkiv. Foto: gemeinfrei

Deutsche Seite nach 1945 nationaler gesinnt

Nicht unerwähnt bleiben soll der Umstand, dass es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 auf Seiten der deutschen Sozialdemokraten als Folge der veränderten Situation der dänischen Minderheit und des aufkommenden schlagartigen Anwachsens dieser Volksgruppe zunächst bei der Parteiführung zu einer scharfen nationalistischen Haltung kam.

Die Situation war folgende: Ein großer Teil der SPD-Mitglieder in Flensburg sympathisierte traditionell mit der dänischen Minderheit, ja bestand sogar aus vielen, die sich als Teil der Minderheit ansahen. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit der Landes-SPD und dem Parteivorstand erklärte der erste Vorsitzende der SPD, Kurt Schumacher (1895-1952), auf einer Kundgebung in Husum am 7. Juli 1946 in rigoroser Weise die Auflösung und Neugründung der Flensburger SPD.

Die meisten der Leute, die heute von Deutschland weg wollen, sind diejenigen, die es sich auf unsere Kosten am besten haben gehen lassen und die jetzt, wo es ans große Bezahlen geht, sich drücken wollen.

Kurt Schumacher

Seine Rede auf dieser Kundgebung ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:

„... wir haben keinen Respekt vor den Speckdänen deutschen Geblüts. Lassen Sie sich nicht imponieren durch die Methoden der Agitation. Jawohl, die Leute haben Hunger, aber Deutschland ist nicht das einzige Land der Welt, in dem gehungert wird (...) Ich gönne jedem sein Stück Speck und bin deswegen nicht neidisch und fühle mich nicht in der Rolle des Sittenrichters, aber Speck und Volksbewusstsein sind Dinge, die niemals auf einen gemeinsamen Generalnenner gebracht werden können und die man voneinander trennen muss (...) dass dieses Südschleswig ein Stück deutschen Landes ist, das wissen wir alle (...). Die meisten der Leute, die heute von Deutschland weg wollen, sind diejenigen, die es sich auf unsere Kosten am besten haben gehen lassen und die jetzt, wo es ans große Bezahlen geht, sich drücken wollen. Aus der Frage, um die in Südschleswig gekämpft wird, wird trotz aller Schulmeisterei keine Volkstumsfrage.“

Kurt Schumacher
Freund deutlicher Worte: Kurt Schumacher, hier bei einer Rede um 1950. Foto: Ullstein Bild/Ritzau Scanpix

Für einige Jahre gab es durch diese Abspaltung in Flensburg eine neue Partei, die Sozialdemokratische Partei Flensburg (SPF), die auf kommunaler Ebene einige Erfolge erzielte und sich stark für die Belange der stark angewachsenen dänischen Minderheit einsetzte. Sie blieb jedoch eine vorübergehende Episode der politischen Entwicklung im Landesteil Schleswig der unmittelbaren Nachkriegszeit, zumal die SPD bald von den scharfen nationalistischen Tönen ihres Vorsitzenden abrückte.

 

 

Der Verfasser hat 1981 in Kiel über die Minderheitenpolitik der schleswig-holsteinischen Landesregierung promoviert und war bis 2019 an der Universitätsbibliothek Tübingen tätig.

 

Mehr lesen