Grenzlandgeschichte

Nordschleswig: Parteipolitik stieß seit 1920 immer auf Grenzen

Nordschleswig ab 1920: Parteipolitik stieß oft auf Grenzen

Nordschleswig ab 1920: Parteipolitik stieß oft auf Grenzen

Volker Heesch
Tondern/Tønder
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Poul-Erik Thomsen referierte im Rahmen der Jubiläumsvorträge anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Geschichtsvereins „Historisk Samfund for Sønderjylland“. Foto: Volker Heesch

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Kommentator Poul-Erik Thomsen skizzierte „den roten Faden“ in der nordschleswigschen Politik seit 100 Jahren. „Historisk Samfund for Sønderjylland“ und die Schleswigsche Partei hatten zum Jubiläumsvortrag eingeladen. Wahl von Jørgen Popp Petersen zum Bürgermeister wurde als Sensation betrachtet. Doch in Tingleff galt dies schon 1980.

Der bekannte Journalist und Kommentator in den Zeitungen „Jydske Tidende“, „JydskeVestkysten“ und anderen Medien, Poul-Erik Thomsen, hat im Rahmen der Vortragsreihe zum 100-jährigen Bestehen des nordschleswigschen Geschichtsvereins „Historisk Samfund for Sønderjylland“ die besondere politische Szene in Nordschleswig seit der Vereinigung des zuvor seit 1864 von Preußen beherrschten Gebietes mit Dänemark beschrieben.

Nordschleswig tickt anders als das übrige Dänemark

Den interessierten Zuhörerinnen und Zuhörern, die zur Veranstaltung unter dem Titel „Der rote Faden in der Politik Nordschleswigs seit 100 Jahren“ auf Einladung des Geschichtsvereins und der Schleswigschen Partei (SP) in Tondern gekommen waren, erläuterte der in Tingleff (Tinglev) beheimatete Thomsen, weshalb bis in die Gegenwart Nordschleswig etwas anders tickt als das übrige Dänemark.

Jens Møller (l.) eröffnete den Vortragsabend als Kreisvorsitzender des Geschichtsvereins. Foto: Volker Heesch

Jens Møller, der Vorsitzende des Kreises Tondern des Geschichtsvereins, hatte den Vortragsabend im Tonderner Bürgerhaus (medborgerhus) eröffnet, in dessen Verlauf Thomsen wichtige Persönlichkeiten auf der politischen Bühne Nordschleswigs vorstellte. „Meine Auswahl ist subjektiv“, so Thomsen, der verriet, dass er seine Erkenntnisse auf unzählige eigene Interviews als Zeitungsjournalist, aber auch auf sein Studium in lokalhistorischen Archiven sowie dem Deutschen Archiv Nordschleswig in Sonderburg stütze.

Enttäuschung nach „Genforening“

„Nordschleswig wurde bereits kurz nach der ,genforening‘ (Wiedervereinigung) und der neuen Grenzziehung von wirtschaftlichen Krisen erschüttert. Es zeigte sich, dass die Vereinigung mit Dänemark dem Landesteil nicht die Hoffnungen erfüllen konnte, die bei vielen vor der Volksabstimmung genährt worden waren“, so Thomsen.

Und er erinnerte daran, dass viele Menschen vor allem auf dem Lande ein hartes Leben meistern mussten. „Es zeigte sich auch, dass es parteipolitisch nicht wie im übrigen Dänemark lief. Lange ging es weiter um die nationale Zugehörigkeit und die Sprache. Immer wieder entstanden Protestbewegungen“, so der Referent. So wie es in den 1920er-Jahren Aufruhrbewegungen von Cornelius Petersen oder Lei gegeben hat, gab es selbst bei der jüngsten Folketingswahl eine Auffälligkeit in Nordschleswig“, so Thomsen. Die Dänemarkdemokraten verbuchten einen großen Wahlerfolg, trotz fehlender örtlicher Kandidaten. Es ging allein darum, Protest per Stimmzettel zu markieren, indem die Aufrührerin Inger Støjberg unterstützt wurde. 

Deutsches Lager ein politischer Block nach 1920 

Thomsen erläuterte, dass die ersten Folketingswahlen nach 1920 und die folgenden Abstimmungen jeweils drei politische Blöcke in Nordschleswig sichtbar machten: die Sozialdemokraten, das bürgerlich-dänische Lager und die deutsche Schleswigsche Partei. Thomsen erwähnte, dass die nordschleswigsche Sozialdemokratie von starker deutscher Prägung nach 1920 zu einer dänischen Partei wurde. Der aus deutsch-gesinnter Familie stammende erste sozialdemokratische Sonderburger Bürgermeister Joh. Jacobsen habe auch viele dänische Stimmen erhalten. Und der langjährige sozialdemokratische Folketingsabgeordnete I. P. Nielsen, der aus Kopenhagen nach Nordschleswig entsandt worden war, erhielt auch deutsche Stimmen. Er war bestens mit den deutschen Genossen in Deutschland bekannt.

Der Kopenhagener Bäcker I. P. Nielsen (1873-1952) war jahrzehntelang Abgeordneter der Sozialdemokraten im Folketing, in Nordschleswig auch mit Stimmen deutschgesinnter Einwohner gewählt. Er war bekannt auch für seinen humanitären Einsatz für notleidende Kinder in Deutschland. Foto: Sprogforeningen

 

Dass es mit der Übertragung der dänischen Parteipolitik nach Nordschleswig nicht einfach war, habe bereits der dänische Architekt der „Genforening“, H. P. Hanssen, erfahren müssen. „Er kam nie mit dem parteipolitischen Spiel in Kopenhagen klar, er blieb immer nur der nationalen Frage verbunden“, so Thomsen.

H. P. Hanssen fehlte Rückhalt im bürgerlichen Lager

H. P. Hanssen wurde teilweise im dänischen bürgerlichen Lager angelastet, dass er nicht von der per Volksabstimmung legitimierten 1920-Grenze abrücken wollte.

 

H. P. Hanssen (1862-1936) war Spitzenvertreter der dänischen Schleswiger bereits vor 1920. Er hatte von 1908 bis 1918 dem Deutschen Reichstag in Berlin angehört. Er war später kurzzeitig dänischer Minister und Folketingsmitglied in Kopenhagen. Foto: Grænseforeningen

 „Im gegnerischen deutschen Lager wollte der SP-Vertreter im Folketing, Johannes Schmidt Wodder, die Grenzziehung von 1920 nie anerkennen“, fügte der Referent hinzu, der unter den seiner Meinung nach einflussreichsten nordschleswigschen Politikern auch den verstorbenen früheren Amtsbürgermeister Kresten Philipsen charakterisierte. Auch dieser sei kein echter Parteipolitiker gewesen. Und er erinnerte daran, dass Philipsen aus Protest gegen die Auflösung der Ämter aus der Partei Venstre ausgetreten ist.

Rolle der SP beleuchtet

Thomsen ging auch auf die Rolle der Schleswigschen Partei ein, die sich nach der Nazifizierung der deutschen Minderheit seit 1933 ab 1945 erst nach und nach wieder Einfluss verschaffen konnte. Thomsen schob in seine Ausführungen einen Blick auf das Ende der Zusammenarbeit zwischen SP und Zentrumsdemokraten nach dem Tode des Chefredakteurs des „Nordschleswigers“, Jes Schmidt, 1979 ein. Dieser war per „Huckepack“ auf der CD-Liste 1973 ins Folketing eingezogen, aus dem die SP 1964 wegen zu geringer Stimmenzahl ausgeschieden war.

Thema Treffen Melchior-Wilhelmsen

Thomsen berichtete von einer im Archiv in Sonderburg aufgenommenen Tonbandaufnahme eines Zusammentreffens unter anderem des SP-Folketingskandidaten Peter Wilhelmsen und des CD-Politikers Arne Melchiors in Wollerup (Vollerup), nachdem die Zusammenarbeit zwischen den Parteien geplatzt war. Der zur jüdischen Bevölkerungsgruppe zählende Melchior hatte erfahren, dass sich der als Schmidt-Nachfolger auserkorene Wilhelmsen einst als 18-jähriger Nordschleswiger während des Krieges freiwillig zur deutschen Waffen-SS gemeldet hatte. Die deutsche Minderheit habe damals darauf beharrt, die eigenen Freiwilligen nicht als Mitverantwortliche von Nazi-Untaten zu betrachten.

Sensation SP-Bürgermeister Popp Petersen

Zur jüngeren politischen Entwicklung in Nordschleswig, wo als Sensation die Wahl Jørgen Popp Petersens als SP-Vertreter zum Bürgermeister Tonderns aufgefasst wurde, meinte Thomsen, dass die SP bereits 1980 eine kommunale Spitzenposition erhalten hatte: „Damals wurde Harald Søndergaard per Losentscheid kommissarischer Bürgermeister der Kommune Tingleff.“ Und der eingefleischte Tingleffer fügte hinzu, dass er auch ein wenig stolz sei, dass in seinem Heimatort eine Parteigründung stattgefunden hatte, die der Schleswigschen Partei im Jahre 1920.

 

Poul-Erik Thomsen würzte seinen Vortrag in Tondern mit vielen Anekdoten aus seiner langen Tätigkeit als Journalist. Foto: Volker Heesch

Poul Erik Thomsen untermalte seine Ausführungen über wichtige Köpfe der Politik in Nordschleswig, die heute vielen Menschen im Landesteil gar nicht bekannt sind, mit Hinweisen auf einstige „heimliche Stadträte“. Das galt für die einstige Venstre-Hochburg Tondern, wo Bürgermeister, Kommunaldirektor, Richter samt Venstre-Lokalredakteur der Zeitung „Vestkysten“ im gemeinsamen Kegelverein „Gut Holz“ vor entscheidenden Stadtratssitzungen politische Weichen stellten. Da habe er als Journalist von „Jydske Tidende“ keine Chance gehabt.

Nachdem Thomsen Ausführungen über die zigarrenrauchende Politikerin Ingeborg Refslund Thomsen, sie war Tochter H. P. Hanssens, sowie der ersten Bürgermeisterin im Lande, Camma Larsen-Ledet, und deren eigenwillige Pressepolitik und Abrisspolitik in Apenrade zum Besten gegeben hatte, bedankte sich das Publikum mit viel Beifall. 

 

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