Jubiläum

„Nicht wir sind umgezogen, sondern die Grenze“

„Nicht wir sind umgezogen, sondern die Grenze“

„Nicht wir sind umgezogen, sondern die Grenze“

Karin Friedrichsen
Karin Friedrichsen Journalistin
Tingleff/Tinglev
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Hinrich Jürgensen betreibt neben seiner Arbeit als Hauptvorsitzender des Bundes Deutscher Nordschleswiger einen ökologischen Pflanzenbaubetrieb. Foto: Karin Riggelsen

Der Bund Deutscher Nordschleswiger wird am 22. November 75 Jahre alt. „Der Nordschleswiger" bringt eine Reihe von Artikeln über die Dachorganisation der deutschen Minderheit. Hier haben wir mit dem Hauptvorsitzenden Hinrich Jürgensen über die Entwicklung der Organisation gesprochen.

Hinrich Jürgensen ist Ende 2006 zum Hauptvorsitzenden des BDN gewählt worden. Der Chef der Dachorganisation der deutschen Minderheit und Ökolandwirt lebt mit seiner Frau Micky Jürgensen auf dem gemeinsamen Anwesen in Gaardeby südlich von Tingleff (Tinglev). 

Das 75-jährige Bestehen am 22. November hätte eigentlich beim Deutschen Tag in Tingleff unter dem Motto „75 Jahre BDN – 100 Jahre Minderheit“ groß gefeiert werden sollen. Aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen wurde die Veranstaltung aber abgesagt.

Hinrich Jürgensen beim Deutschen Tag in Tingleff (Archivfoto) Foto: Karin Riggelsen

Die Zeit vor 1945

Seit der Neuziehung der Grenze 1920 und Eingliederung des Landesteils nach Dänemark entstanden auf beiden Seiten der deutsch-dänischen Grenze Minderheiten. Jürgensen formuliert es folgendermaßen: „Nicht wir sind umgezogen, sondern die Grenze.“

In Nordschleswig organisierte sich nach 1920 eine deutsche Volksgruppe, deren Stärke damals auf etwa 15.000 Wähler, insgesamt ca. 30.000 Mitglieder, geschätzt wurde. Das schreibt der Bund Deutscher Nordschleswiger auf seiner Homepage (bdn.dk):

Im August 1920 wurde der „Schleswigsche Wählerverein" gegründet. Aufgrund der unterschiedlichen Abstimmungsverfahren (1. Zone en bloc / 2. Zone gemeindeweise) in Schleswig wurde die Forderung nach einer neuen Abstimmung und einer Grenzrevision zum zentralen Programmpunkt des Wählervereins.

Außerdem trat der Wählerverein für das Recht der Deutschen in Nordschleswig ein, sich „in Kirchen-, Schul- und allen völkischen Angelegenheiten selbst zu verwalten". Insbesondere die Forderung nach einer Grenzrevision war in den 20er und 30er Jahren ein wesentlicher Grund für politische Konflikte zwischen Deutschen und Dänen.

Kulturpolitisch werden der deutschen Minderheit entsprechend den auch sonst in Dänemark geltenden Gesetzen für Privatschulen und freikirchliche Arbeit relativ gute Bedingungen gewährt.

Bei der ersten Folketingswahl nach der Volksabstimmung nahm der Wählerverein unter dem Namen Schleswigsche Partei (Slesvigsk Parti) an der Wahl teil und erzielte ein Mandat, das von 1920 bis 1939 von Johannes Schmidt-Wodder wahrgenommen wurde. Danach war der nationalsozialistische Volksgruppenführer Jens Möller bis 1943 Mitglied des Folketings.

Wir können mit der Geschichte anfangen bei der Gründung des BDN am 22. November 1945

Hinrich Jürgensen, BDN-Hauptvorsitzender

„Stunde Null“ des BDN begann in Hadersleben

„Wir können mit der Geschichte anfangen bei der Gründung des BDN am 22. November 1945“, sagt Hinrich Jürgensen. Deutsch Gesinnte gründeten den Dachverband in Apenrade (Aabenraa).

An der Gründungsversammlung nahmen rund 30 Nordschleswiger teil, so Jürgensen.  Nach der deutschen Kapitulation waren etwa 3.000 Angehörige der deutschen Minderheit im „Faarhus-Lager“ bei Fröslee (Frøslev) inhaftiert. Das Lager wirkte vom Mai 1945 bis zum Herbst 1949 während der Rechtsabrechnung als Internierungs- und Straflager.

Nach Kriegsende wurden auch fast alle deutschen Schulen geschlossen und die Gebäude vom dänischen Staat übernommen, als Entgegnung auf die Zusammenarbeit aus Teilen der Minderheit mit Hitler-Deutschland. 

„Zu dem Zeitpunkt wusste man nicht mal, ob man aus Dänemark herausgeworfen wird. Es war wirklich die ,Stunde Null‘.

Er erinnert an die Geburtsstunde des BDN: „Das Einfachste wäre damals gewiss gewesen zu sagen, jetzt sind wir Dänen.“ Stattdessen hätten sich engagierte Nordschleswiger für die Fortexistenz der deutschen Minderheit eingesetzt, unterstreicht der Hauptvorsitzende.

„Ich bewundere die Leute, die damals an unserer Kultur und unserer Geschichte festgehalten haben. Dafür gebührt ihnen großes Lob“, sagt Jürgensen.

„Haderslebener Kreis“ ebnete den Weg

Bei der Gründungsveranstaltung an jenem Donnerstagabend vor knapp 75 Jahren wurde ein neuer Weg eingeschlagen und die Grundlage für ein nachbarschaftliches Miteinander von dänischer Mehrheitsbevölkerung und deutscher Minderheit geschaffen.

Die notwendigen Voraussetzungen für die Gründung des BDN hatten Mitglieder des „Haderslebener Kreises“ geschaffen.

Der Kreis mit unter anderem Tabakfabrikant Matthias Hansen und Pastor Friedrich Prahl, die Mitglieder des Kreises standen dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber, hatten bereits 1943 die „Haderslebener Erklärung“ verfasst und darin die Loyalität gegenüber dem dänischen Staat bekundet.

Die Erklärung bildete im Winter 1945 die Grundlage der Satzungen des BDN. In der Gründungserklärung bekennt sich die Minderheit zu unbedingter Loyalität gegenüber dem dänischen König, dem dänischen Staat und der 1920 neu gezogenen Grenze.

  

Zu dem Zeitpunkt wusste man nicht mal, ob man aus Dänemark herausgeworfen wird. Es war wirklich die ,Stunde Null‘.

Hinrich Jürgensen, BDN-Hauptvorsitzender

Von Feindschaft zur Freundschaft und zum Füreinander

„Die Loyalitätserklärung ist eigentlich die Geburtsstunde für das Demokratieverständnis und so ein bisschen auch unser Grundrecht. Das hat mit dazu beigetragen, dass wir von Feindschaft zur Freundschaft und zum Füreinander gehen konnten“, sagt der Hauptvorsitzende, der sein Amt von Hans Heinrich Hansen übernahm. Seit 1945 haben sieben Männer den Posten innegehabt. Matthias Hansen war der erste Vorsitzende des Dachverbands. 

Der Gedenkpark vor dem Apenrader Folkehjem: Die Betonklötze mit Holzplanken sind Sitzplätze und geschichtliche Meilensteine zugleich. Die Bonn-Kopenhagener Erklärungen 1955 gehören dazu. Auf einem Betonklotz ein Zitat aus der Erklärung für die dänische Minderheit. Foto: Karin Riggelsen

Bonn-Kopenhagener Erklärungen: Ein weiterer wichtiger Faktor

Nach der Gründung des Deutschen Schul- und Sprachvereins für Nordschleswig (DSSV) im August 1945 gelang es, mithilfe tatkräftiger Unterstützung aus Mitteln der Bundesregierung und Schleswig-Holsteins das Schulwesen langsam wieder aufzubauen. 

In Verbindung mit den Bonn-Kopenhagener Erklärungen, zwei separate Regierungserklärungen von Deutschland und Dänemark, die im März 1955 unterzeichnet wurden und die Anerkennung der Minderheit im jeweiligen Staat bestätigen, wurde das nach Kriegsende geltende Examensverbot für die deutschen Privatschulen aufgehoben. 1959 konnte das Deutsche Gymnasium für Nordschleswig (DGN) in Apenrade seinen Betrieb aufnehmen, spricht Jürgensen weitere wichtige Meilensteine an.

Die Erklärungen garantieren der dänischen Minderheit in der Bonner Erklärung und der deutschen Minderheit in der Kopenhagener Erklärung ihre allgemeinen Rechte sowie die formelle Gleichbehandlung und das freie Bekenntnis zur jeweiligen Volkszugehörigkeit zu.

Die Verhältnisse im Grenzland zwischen Mehr- und Minderheiten entwickelten sich nach 1955 mehr zum Miteinander und schließlich zu einem Vorbild für Europa.

Minderheit ist in vier Stadträten vertreten

Die Schleswigsche Partei, die politische Vertretung der deutschen Minderheit in Nordschleswig, hat nach 1979 kein Mandat im Folketing gewinnen können. Wie Jürgensen unterstreicht, macht die Partei lokal ihren Einfluss geltend mit gegenwärtig zehn Mandaten in den vier Stadträten in Nordschleswig.

Sekretariat in Kopenhagen und weitere wichtige Meilensteine

Den Entspannungsprozess förderlich begleitet habe unter anderem auch 1983 die Einrichtung des Sekretariats der deutschen Volksgruppe in Kopenhagen. Zu den historischen Höhepunkten gehörten der Besuch von Königin Margrethe und Prinz Henrik im Juli 1986, der Besuch von Bundespräsident Richard von Weizsäcker Ende April 1989 sowie der gemeinsame Besuch von Königin Margrethe II. und Bundespräsident Roman Herzog im Juli 1998.

Diese Besuche waren wichtige Schritte auf dem Weg zu endgültiger Anerkennung und kultureller Gleichberechtigung und ein Ausdruck für die gute Nachbarschaft im Grenzland.

Ein weiterer Durchbruch in den Beziehungen zwischen Minderheit und Mehrheit erfolgte 1995 mit der Einladung an den Hauptvorsitzenden des Bundes Deutscher Nordschleswiger, Hans Heinrich Hansen, zum Düppel-Fest (Dybbøl) anlässlich der 75-Jahr-Feier der Grenzziehung von 1920, auf dem Hansen als Redner auftrat.

Dies betrachtete man seitens der Minderheit als Ausdruck der Gleichwertigkeit der deutschen Nordschleswiger. Weitere Informationen www.de.wikipedia.org.

Die braunen Tourismusschilder für die Bildungsstätte Knivsberg waren auch Thema einer Rede des Hauptvorsitzenden auf einer Tagung in Sankelmark. (Archivfoto) Foto: Karin Riggelsen

Braune Hinweisschilder wecken Interesse für die Kulturstätte

Der Hauptvorsitzende ist auch ein gefragter Referent, und er macht gerne Führungen über die Bildungsstätte Knivsberg (Knivsbjerg), um im kulturellen Zentrum und Treffpunkt Minderheit und Mehrheitsbevölkerung Wissenswertes über die Geschichte der deutschen Nordschleswiger zu vermitteln.

Im Sommer 1945 wurde dort der Turm, einst Teil einer Bismarck-Statue, von Widerstandskämpfern gesprengt. „Die Trümmer lagen bis 1955. Erst da hat sich der dänische Staat bereit erklärt, sich an den Aufräumarbeiten zu beteiligen“, sagt Hinrich Jürgensen.

Die Gedenkmauer gehört auch zu den Stätten, die der Hauptvorsitzende mit den Besuchern ansteuert. Die Inschrift der Mauer lautet „Jungs holt fast“, und der Spruch bringe zum Ausdruck, dass man an der Geschichte und ihren Wurzeln festhalten sollte. „Eigentlich müsste da Mädchen und Jungs holt fast stehen“, sagt Jürgensen im Hinblick auf die aktuelle Gleichstellungspolitik in der Minderheit. 

Die Kulturstätte bekam 2018 zwei braune Hinweisschilder an der nordschleswigschen Autobahn. Die Schilder weisen den historischen Ort auf Dänisch und Deutsch aus, und das hat, so Jürgensen, die Besucherresonanz ansteigen lassen. „Wir haben auch viele Tagestouristen, die aus weiten Teilen Dänemarks kommen“, freut sich Jürgensen.

Tourismusschilder, aber keine zweisprachigen Ortstafeln

Der Hauptvorsitzende verbucht die braunen Tourismusschilder als Erfolg. Die zweisprachigen Ortsschilder im Landesteil lassen trotz jahrelanger Debatte noch immer auf sich warten.

Jürgensen trat sein neues Amt im Januar 2007 an, einige Monate später entbrannte die Diskussion über zweisprachige Ortstafeln. Jürgensens Vorgänger Hans Heinrich Hansen hatte 2004 den Ortsschilder-Wunsch gemeinsam mit dem damaligen „Nordschleswiger“-Chefredakteur und Sekretariatsleiter Siegfried Matlok sowie BDN-Generalsekretär Peter Iver Johannsen definiert und darauf aufmerksam gemacht, dass Dänemark sich nicht an die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen halte. Dies habe damals vehemente Diskussion ausgelöst.

Der Europarat unterstützt zweisprachige Schilder, abgeleitet durch die Verpflichtungen, die auch Dänemark mit der Sprachencharta (Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992) unterzeichnet hat.

Die Debatte 2007 war vorab der Einführung mehrsprachiger Ortsschilder in Flensburg entfacht, erinnert sich Jürgensen.

Hinrich Jürgensen 2015 in Hadersleben, wo das zweisprachige Ortsschild für Schlagzeilen sorgte (Archivfoto). Foto: Ute Levisen

Erneute Diskussion im Jubiläumsjahr

Ein Komitee des Europarates, das prüft, ob das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten in den Ländern, die es ratifiziert haben, eingehalten wird, übte Anfang des Jahres erneut Kritik an Dänemark und stieß die Debatte um mehrsprachige Ortsschilder in Nordschleswig im Jubiläumsjahr der Grenzziehung an.

Es sei nicht die deutsche Minderheit, die die Diskussion im Jubiläumsjahr lostrat, betont Hinrich Jürgensen. Dies sei geschehen, nachdem der Europarat Ende Januar einen Bericht vorgelegt hatte, aus dem hervorgeht, dass Dänemark einigen Verpflichtungen in Bezug auf die deutsche Minderheit nicht oder nicht ausreichend nachkommt. Die deutsche Minderheit ist die einzig anerkannte nationale Minderheit in Dänemark.

Das Komitee kritisierte unter anderem, dass es in Dänemark noch immer keine zweisprachigen Ortsschilder gibt, erzählt Jürgensen.

Stimmungswechsel in der Schilderdebatte

„Die Debatte ist jetzt zum größeren Teil positiv. Im Verhältnis zu 2007, wo wir einen regelrechten ,Shitstorm‘ erlebten, und 2004 werden es mehr und mehr, die den Sinn sehen können“, beschreibt Jürgensen einen Stimmungswechsel hin zu einer positiveren Betrachtungsweise in puncto zweisprachige Ortsschilder.

Als Frontfigur der deutschen Minderheit ist er erfreut darüber, dass der Inhalt der Sprachpolitik von einer langen Reihe örtlicher Minderheitenvereine besprochen und auf einer anschließenden Delegiertenversammlung einstimmig verabschiedet wurde. 

In Europa gebe es, mit Ausnahme von Dänemark und Litauen, überall dort, wo es anerkannte Minderheiten gibt, auch zweisprachige Ortsschilder, sagt Hinrich Jürgensen. Für ihn sind die Schilder die Möglichkeit, sichtbar zu machen, dass es in Nordschleswig eine dänische Kultur und eine deutsche Minderheitenkultur gibt, die geprägt sind von der gemeinsamen Geschichte.

Die deutsche Minderheit

Der BDN bündelt seine Aktivitäten in den vier Bezirken in Tondern (Tønder), Apenrade, Sonderburg (Sønderborg) und Hadersleben.

Die 18 Ortsvereine organisieren eine Vielzahl an Veranstaltungen. Mit der deutschen Sprache vermittelt der BDN seine Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis und zur Geschichte der deutschen Minderheit und als Brückenbauer zwischen Deutschen und Dänen.

Dazu tragen auch die 13 Schulen, das Deustche Gymnasium für Nordschleswig sowie die 19 Kindergärten des DSSV und die Deutsche Nachschule Tingleff bei.

Die deutsche Volksgruppe unterhält unter anderem auch eigene Büchereien, betreibt kirchliche und soziale Arbeit, ist Träger des Medienhauses „Der Nordschleswiger“ und bietet in einer Vielzahl von Vereinen sportliche und kulturelle Aktivitäten an.

Hinrich Jürgensen steht seit 2007 an der Spitze der deutschen Minderheit: „Die Minderheit ist wesentlich offener als früher. Es ist ein größeres Miteinander in vielen Bereichen auch zwischen Minderheit und Mehrheit." Foto: Karin Riggelsen

Mit der Sprache Zugehörigkeit vermitteln

Wie viele sich im 75. Jubiläumsjahr der Minderheit zugehörig fühlen, kann Jürgensen nicht exakt beantworten: „Wenn die Sonne scheint, sind wir vielleicht 18.000. Bei Regen vielleicht nur 15.000.“ 

 

Hauptvorsitzende des Bundes Deutscher Nordschleswiger

Quelle: bdn.dk
Matthias Hansen, 1945-1947
Dr. Niels Werner, 1947-1951
Hans Schmidt-Oxbüll, 1951-1960
Harro Marquardsen, 1960-1975
Gerhard Schmidt, 1975-1993
Hans Heinrich Hansen, 1993-2006
Hinrich Jürgensen, seit 2006

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