Leitartikel

„Helmpflicht im Auto? Wir sind doch nicht auf den Kopf gefallen!“

Helmpflicht im Auto? Wir sind doch nicht auf den Kopf gefallen!

Helmpflicht im Auto? Sind wir etwa auf den Kopf gefallen?

Apenrade/Aabenraa
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Dänemark ist kein Fahrradland, sondern ein an eine Fahrradhauptstadt angeschlossenes Autoland, meint Cornelius von Tiedemann. Die Kampagne für Fahrradhelme bei der Tour de France fand auch er lustig – bedauert aber, dass sie davon ablenkt, dass die Politik uns und dem Nachwuchs mehr schuldet als den Rat, einen Helm aufzusetzen.

Auf Nordschleswigs Straßen sehen wir sie noch jetzt, zwischen Pfützen und Herbstlaub, in einst leuchtendem Gelb auf den Asphalt gesprüht: Die Wikingerhelme aus den Tagen der Tour de France. Helme seien schon immer eine gute Idee gewesen, heißt es da, mit einem Augenzwinkern, das gut ankam. Beim Publikum und bei den Berichterstattenden, die die lustige Reklame für diese verkehrspolitische Ausflucht bereitwillig in alle Welt trugen.

Gesponsort wurde die Aktion übrigens, wenn auch nicht überall sichtbar, von einer namhaften deutschen Firma, die Fahrradhelme herstellt.

„Fahrradhelme machen das Radfahren sicherer“. Wenn wir diese Argumentation, der viele Entscheidungstragende folgen, konsequent zu Ende bringen, könnte sich jenes Unternehmen freuen: Dann würde es nämlich auch Autofahrerinnen und Autofahrern und sogar Fußgängerinnen und Fußgängern Helme verkaufen können.

Tatsache ist: Todesfälle nach Verletzungen am Kopf sind bei Autofahrten, auch mit Airbags, anteilig und in Summe, bedeutend häufiger als bei Radfahrten. Und es ist diesbezüglich sogar gefährlicher, zu Fuß zu gehen.

Cornelius von Tiedemann

Zugegeben, dieser Dreh ist nicht ganz neu, aber noch immer wahr. Und nein, niemand plant in Dänemark eine Helmpflicht, weder für Rad- noch für Autofahrerinnen und -fahrer.

Doch Tatsache ist: Todesfälle nach Verletzungen am Kopf sind bei Autofahrten, auch mit Airbags, anteilig und in Summe, bedeutend häufiger als bei Radfahrten. Und es ist diesbezüglich sogar gefährlicher, zu Fuß zu gehen.

Warum also ausgerechnet die Radfahrenden zum Tragen eines Helmes animieren – und nicht Autofahrerinnen und Autofahrer? Weil das absurd wäre?

Nein. Es liegt daran, dass Radfahrende in der Unfallstatistik, was Unfälle mit Autos angeht, häufiger Opfer als Täterin oder Täter sind. Und das weckt das Verlangen, sie schützen zu wollen.

Wenn wir von 222 Arbeitstagen im Jahr ausgehen, könnten wir einer kanadischen Studie zufolge 1.423 Jahre lang mit dem Rad zur Arbeit hin- und zurückfahren, bevor wir einen Unfall haben, nach dem wir mit Kopfverletzung im Krankenhaus landen.

Cornelius von Tiedemann

Was wir dabei vergessen: Konsequenten Schutz bieten nicht Helme, sondern eine harte und in der Anschaffung teure Infrastruktur!

Zwar schützen Helme in einem gewissen Grad bei Stürzen auf den Kopf. Doch solche Stürze sind außergewöhnlich.

Eine umfassende Studie aus Kanada, die die Daten sämtlicher Krankenhäuser des Landes über sechs Jahre lang miteinander abglich, kam (unter anderem) zu dem Schluss, dass nur rund eine von 632.000 Radfahrten mit Kopfverletzung im Krankenhaus endet. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Helm getragen wurde oder nicht, ob es Helmpflicht gab oder nicht.

Das bedeutet, dass wir, wenn wir von 222 Arbeitstagen im Jahr ausgehen, 1.423 Jahre lang mit dem Rad zur Arbeit hin- und zurückfahren könnten, bis wir einen Unfall haben, nach dem wir mit Kopfverletzung im Krankenhaus landen.

Radfahrende schützen, bevor es zum Unfall kommt

Zugleich ist belegt (unter anderem durch ebenjene Untersuchung), dass Radfahren dort am sichersten ist, wo viele Menschen Rad fahren. Und dass es einen erheblichen Unterschied macht, ob Radfahrende vor dem Autoverkehr geschützt werden oder nicht. Denn in den meisten Fällen sind (männliche) Autofahrende schuld daran, wenn Radfahrende bei Unfällen mit Autos zu Schaden kommen.

Dennoch bleiben die Straßen auf die Bedürfnisse der Autos ausgerichtet, die ohnehin bereits fahrende Schutzzellen sind.

Dass Autofahrende es trotzdem schaffen, viel häufiger an Kopfverletzungen zu sterben als Radfahrende, zeigt, wie verschoben unsere Wahrnehmung in dieser Frage ist. Auch wegen gut gemeinter Kampagnen wie der mit den Helmen aus der Zeit der Wikingerinnen und Wikinger.  

Und die gibt es, weil Dänemark außerhalb der großen Städte ein Autoland ist und kein Fahrradland. Weil immer weniger Kinder und Erwachsene in Dänemark mit dem Rad fahren.

Könnte die dänische Helm-Kampagne, die weltweit zum Hit wurde, vielleicht sogar ihren Teil dazu beigetragen haben, dass noch mehr Menschen, wenn sie Fahrrad denken, auf die falsche Bahn gelenkt werden? Dass sie denken, es sei gefährlich, mit dem Fahrrad zu fahren?

Dabei ist es das eben gerade nicht.

Und es wird umso sicherer, je mehr von uns mit dem Rad fahren statt mit dem Auto.

Wahlplakate statt Helmreklame

Deshalb: Viel erfreulicher als eine lustige Helmreklame auf dem Asphalt wären Wahlplakate, auf denen Kandidierende eine ordentliche Infrastruktur fürs Rad fordern! Getrennte Radwege, ordentliche Beleuchtung und intelligente Ampelsysteme und vieles mehr.

Die Politik, auch und gerade auf dem Lande, steht in der Pflicht, statt immer neue Autobahnen zu fordern, endlich dafür zu sorgen, dass Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer in Sicherheit zur Arbeit, zur Schule, zum Kindergarten oder zum Einkaufen kommen. Mit oder ohne Helm.

Doch das ist nicht gegeben, wenn wir Fahrradwege auf Schnellstraßen wie dem Flensborg Landevej nur aufmalen. Dort rasen Autos, Lkws und Busse in hauchdünnem Abstand an den radfahrenden Mitmenschen vorbei, auch in Dunkelheit und im strömenden Regen. Ein Wunder, dass nicht mehr passiert. Vermutlich liegt es daran, dass kaum jemand in Nordschleswig auf den Landstraßen mit dem Rad unterwegs ist.

Dänemark hinkt hinterher

Außerhalb der großen Städte hinkt Dänemark im Hinblick auf Infrastruktur fürs Rad anderen Ländern weit hinterher. Daran ändern auch die schönsten Radwanderwege und die Tour de France nichts. Und die gelbe Helmwerbung auf unseren Straßen, die nach und nach von den Autoreifen abgetragen wird, auch nicht.

Das Fahrrad, konventionell oder elektrisch, ist das Verkehrsmittel der Zukunft. Ressourcensparend, gesundheitsförderlich und erschwinglich.

Gerade die derzeitige Krise sollte allen begreiflich machen, wie sehr wir das Fahrrad fördern und bevorzugen sollten, um uns von Abhängigkeiten zu befreien – anstatt am verschwenderischen und trügerischen Traum von Freiheit nur durch das Automobil festzuhalten.

Wer meint, politische Verantwortung übernehmen zu müssen, und das noch nicht begriffen hat, dem sei mit den berühmten Worten des ehemaligen Bremer Meistertrainers Thomas Schaaf gesagt: „Du hast wohl 'n nassen Helm auf!“

 

 

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