Geschichte

Von Preußen nach Broacker 1944: Das ist Eckarts Geschichte

Von Preußen nach Broacker 1944: Das ist Eckarts Geschichte

Von Preußen nach Broacker 1944: Das ist Eckarts Geschichte

Broacker/Broager
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Eckart Laubinger freute sich auf den Besuch aus Sonderburg. Foto: Birthe Juul Mathiasen

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Der heute 90-jährige Eckart Laubinger aus Lübeck erinnert sich im Interview an die Flucht aus Preußen und seine Zeit in Sonderburg und Broacker.

Eckart aus Elbing – heute Elblag – in Preußen war 1944 elf Jahre alt, als er mit seiner Mutter Anna und der jüngeren Schwester Dorothea den Vater Erich in Rostock besuchte. Der bei der Standortverwaltung des Heeres beschäftigte Papa war in die nordöstliche Hansestadt von Deutschland versetzt worden. Zur Familie gehörte auch die älteste Schwester Gisela, die als Büroangestellte in Elbing arbeitete.

Was die fünfköpfige Familie Laubinger bei dem Besuch in Rostock damals nicht ahnte: Die rote Armee war im Anmarsch. Sie sollten ihre Heimat nie wieder sehen.
 „Die Russen waren einmarschiert. Wir sind nie wieder nach Hause zurückgekehrt – und Gisela brauchte ganze sechs Wochen, um von Elbing nach Rostock zu gelangen“, erzählt Eckart Laubinger.

Besuch aus Sonderburg

Nach dem Anruf des „Nordschleswigers“ hat er sich sehr auf den Besuch der beiden Journalistinnen aus Sonderburg gefreut. Bei der Ankunft öffnet er gut gelaunt die Eingangstür und heißt die Gäste sehr herzlich willkommen. „Wie ist das toll“, stellt er fest. Seine Freude kann er nicht verbergen.

Ein Foto von den drei Kindern der Familie Laubinger in Broacker - v.l. Eckart (11), Dorothea (3) und Gisela (20). Foto: Privat

Zwei Journalistinnen vom „Nordschleswiger“ und „JydskeVestkysten“ sitzen anschließend zusammen mit ihm Mitte Dezember  in seiner gemütlichen Stube in Schlutup bei Lübeck. Bei Kerzenlicht, frisch gebrautem Kaffee in Tassen mit Weihnachtsmännern und Tannengrün erzählt der damalige kleine Junge, wie er einst mit seiner Mutter und den beiden Schwestern nach Nordschleswig kam. Zwei Jahre waren die Laubingers in Sonderburg und anschließend in Broacker untergebracht.

Gute Zeit in Nordschleswig

Der 90-Jährige sprüht nur so vor guter Laune. Manchmal sitzt er aber auch mit ernster Miene und schaut auf seine gefalteten Hände. Nach so vielen Jahren berührt es ihn immer noch, dass seine Familie damals auseinandergerissen wurde. Einige blieben in der Heimat, die später zu Polen wurde. Eine von ihnen war seine Großmutter in Königsberg. Aber Eckart, seine Schwestern und die Mutter wollten einfach weg.

Wir sollten eigentlich nach Kiel. Die wollten uns dort aber nicht an Land lassen. Wir kamen also auf ein anderes Schiff, und von da ging es dann nach Sonderburg.

Eckart Laubinger

Für ihn war der Aufenthalt in Nordschleswig eine gute Zeit. „Kein Stress, kein Ärger – und tolle Sahnetorte“, wie er erklärt. In Sonderburg erhielt er ein Stück Kuchen, von dem er noch heute schwärmt und mit den Augen rollt. Weil er ein schwaches Herz für süße Sachen hat, hatten die beiden Journalistinnen auch ein Stück dänische Backkunst dabei: eine reich mit Sahne gefüllte „gåsebryst“ (Gänsebrust). Diese ließ er sich mit einem schwärmerischen „Das war lecker. Det var godt“ auf der Zunge zergehen.

Mit dem Schiff nach Sonderburg

Er erinnert sich an die dramatische Flucht, die von Rostock aus auf einem Minensuchboot der Kriegsmarine zur See weiterging. Unterwegs wurde das Boot beschossen. Schockierend, aber es konnte sie nicht aufhalten.

 

Flüchtlinge kamen erst mit Zügen, anschließend auch auf Schiffen nach Sonderburg Foto: Fotograf unbekannt/Museum Sønderjyllands Mediearkiv


„Wir sollten eigentlich nach Kiel. Die wollten uns dort aber nicht an Land kommen lassen. Wir kamen also auf ein anderes Schiff, und von da ging es dann nach Sonderburg“, so Eckart Laubinger. Der Junge war sehr erschöpft, und legte sich daher einfach in eine leere Koje. „Meine Mutter befürchtete dann, dass ich über Bord gefallen bin. Aber ich hatte ja nur geschlafen“, meint Eckart Laubing verschmitzt lächelnd.

Weihnachtsfest beim Schornsteinfeger

In Sonderburg ging die Familie wie so viele andere Menschen aus Ostpreußen an Land. Die Flüchtlinge wurden zuerst in einer Turnhalle gebracht, wo sie nachts auf Stroh schliefen. Für die Verpflegung sorgte die Marine, erinnert sich Laubinger. Niemand war eingesperrt, alle konnten sich frei bewegen.

So traf seine Schwester Gisela den Sonderburger Schornsteinfeger Harry Rasmussen. Der Sonderburger und die junge Frau aus Elbing verstanden sich sehr gut. So wurde das erste Weihnachtfest der Laubingers in Dänemark im Zuhause der Familie Rasmussen in der Søndergade gefeiert. Für die Familie aus Preußen war dies eine gut tuende Geborgenheit: „Es war wie zu Hause: mit Tannenbaum und Geschenken.“

23.000 in Nordschleswig

Die Familie aus Elbing gehörte nun selbst zu den vielen Flüchtenden, die alles stehen ließen, um nicht ein Teil von Russland zu werden. Nach Nordschleswig waren bei der
Befreiung am 5. Mai 1945 23.000 Flüchtlinge aus Ostpreußen mit Zügen und Schiffen gelangt. Das entsprach damals elf Prozent der Bevölkerung. Zu dem Zeitpunkt waren in Dänemark insgesamt 245.000 Menschen – oder sieben Prozent der Bevölkerung – notgedrungen im Königreich untergebracht worden.

Eckart Laubinger studiert ein altes Foto eines dänischen Artikels, in dem die Flüchtlingswelle von Ostpreußen beschrieben wird. Foto: Birthe Juul Mathiasen

Im Frühjahr 1944 hatte die deutsche Minderheit in Nordschleswig sich noch der deutschen Flüchtlinge angenommen. 9.000 Familien halfen mit, aber das war schnell nicht mehr genug. Die deutsche Wehrmacht beschlagnahmte deshalb Schulen, Hotels, Wirtshäuser und Versammlungshäuser. In Sonderburg wurden 13 Gebäude, unter anderem die Sonderburger Gymnasien, die Ahlmann-Schule, Herzog Friedrich Schule und Sct. Jørgens Skole, umfunktioniert.

Von Sonderburg nach Broacker

Von Sonderburg aus wurden die Ostpreußen anschließend zu Familien oder in Institutionen in anderen Ortschaften gebracht. Die Laubingers und 19 weitere Kinder und Erwachsene wurden in der damaligen deutschen Schule in Broacker (Broager) einquartiert. Vater Erich blieb in Rostock und zog erst später nach Lübeck. Die Gruppe aus Ostpreußen übernachtete in einem Klassenzimmer in Etagenbetten. „Eine Frau aus Stettin schnarchte ganz arg“, erinnert sich Eckart. Die Schule wurde später der deutsche Kindergarten Broacker.

Die deutschen Kinder wurden von einem Deutschlehrer unterrichtet. Von der dänischen Sprache wurden nur wenige Wörter aufgeschnappt. Der kleine Eckart hat in seiner
Zeit in Broacker nie etwas Schlechtes erlebt. „Wir konnten uns immer frei bewegen“, meint er. Die Familie wusste, dass sie nie wieder nach Elbing zurückkehren würde.

Altes Fahrrad und Blutvergiftung

Der damals noch kleine Junge erinnert sich bei den zwei Jahren in Dänemark nicht an so viele Details. Aber er weiß noch, dass es an der Schule in Broacker ein sehr altes Fahrrad gab, auf dem die Kinder radeln durften. Auf dem ganz in der Nähe der Schule gelegenen Friedhof gab es auch Grabsteine mit deutschen Namen, was dem Jungen aufgefallen war.

Die deutsche Schule Broacker wurde später der deutsche Kindergarten. Foto: Ukendt fotograf, Museum Sønderjyllands Mediearkiv/Deutsches Archiv Nordschleswig

Ein Ausflug zum Wasser hat sich bei ihm deutlich ins Gedächtnis gebrannt. Es war Sommer und die deutschen Kinder konnten an der nahegelegenen Küste von Broacker ins kühle Nass springen. Eckart spielte ausgelassen – und trat mit der einen Ferse auf eine Muschel. Das Blut floss, und der Junge wurde später mit einer Blutvergiftung nach Sonderburg ins Krankenhaus gebracht. Im Krankenhaus wurde der kleine Eckart von einem tschechischen Arzt operiert. Er wurde gerettet: „Aber die Narbe ist immer noch da.“

Er erinnert sich nicht daran, dass der Vater in Rostock seiner Frau oder den Kindern  jemals Briefe oder Karten schickte. Eckart Laubinger wusste, dass der Bevölkerung das Fraternisieren mit den Deutschen verboten wurde. „Aber es ging uns ja gut“, stellt der 90-Jährige immer wieder fest. Auch die Befreiung 1945 war in Broacker kein Anlass für eine große Feier der Dänen, erinnert er sich.

Sie redeten nicht über die Flucht

Von Broacker ging es für die Familie Laubinger via Auffanglager Pelzerhaken nach Lübeck zum Vater. Viel hat die Familie nicht über die Begebenheiten und die Flucht aus
dem heutigen Polen geredet. „Sie waren traurig, aber sie haben nicht darüber gesprochen“, so Eckart Laubinger.
Die Großmutter mütterlicherseits blieb in Johannesberg hinter dem eisernen Vorhang. Sie schickte jedes Jahr zu Weihnachten einen großen Geschenkkorb mit Mohnkuchen
und Gans.

Eckart Laubinger lebt seit 1971 in einer früheren Munitionsfabrik in Schlutup. Seine Wohnung hat immer noch die alten Eisentüren. Foto: Birthe Juul Mathiasen

Nach der Schulzeit wurde der junge Mann Eckart Kraftfahrzeugmechaniker, Fernfahrer und zuletzt Busfahrer. Eckart Laubinger heiratete 1959 Rosemarie aus Stettin. Das Ehepaar bekam die beiden Töchter Andrea und Manuela. Der 90-Jährige hat im vergangenen Jahr mit Tochter und Schwiegersohn Broacker und Sonderburg besucht. Dieses Wiedersehen mit Dänemark bedeutet Eckart, der 2015 Witwer wurde, sehr viel. Er freut sich, dass seine Enkeltochter Jasmin Dänisch lernt.

Wieder nach Nordschleswig

Eckart Laubinger spricht selbst nur wenig Dänisch, hat aber ein hervorragendes Gehör für Sprachen. Er hört deutlich Unterschied zwischen „sønderjysk“ und dem Kopenhagener Dialekt. Das demonstriert er auch ruckzuck mit zwei Sätzen. Er spricht gern ein paar Worte Dänisch. 

Als die beiden Besucherinnen aus Sonderburg nach zwei informativen Stunden wieder die zweieinhalbstündige Rückfahrt antreten, werden sie noch lieb umarmt. Der kleine Junge von damals  will unbedingt wieder nach Nordschleswig. Dorthin, wo er zwei Jahre lang mit seiner Mutter und den beiden Schwestern in Sicherheit lebte. 

„Ich gebe euch Bescheid“, verspricht er.

Von Ostpreußen nach Dänemark 

Ein Stück „gåsebryst" aus Sonderburg für Eckart Laubinger in Lübeck Foto: Birthe Juul Mathiasen
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