Die Woche am Alsensund

Schmerzmittel statt Sonnenuntergang

Schmerzmittel statt Sonnenuntergang

Schmerzmittel statt Sonnenuntergang

Sonderburg/Sønderborg
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Eine neue Woche am Alsensund mit Kolumnistin Sara Eskildsen Foto: Karin Riggelsen

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Diese Woche am Alsensund schrieb Kolumnistin Sara Eskildsen mit behindertem Mittelfinger und stellte fest, dass es mit dem Alltag schneller vorbei sein kann, als einem lieb ist.

In dieser Woche arbeitete ich nicht am Alsensund, sondern an der Apenrader Förde. Nach drei Wochen Sommerurlaub zwischen Mjels Mark und Mummark war ich im Zuge eines Redaktionstausches in die Hauptredaktion beordert worden.

Zwei Wochen lang bin ich Gerrit, während mein Kollege aus der Hauptredaktion den Alltag in der Lokalredaktion Sonderburg erlebt und beschreibt.

Wir tauschen nicht Schuhe, sondern Schreibtische

„Gehe hundert Schritte in den Schuhen eines anderen, wenn du ihn verstehen willst“, besagt eine alte Weisheit. Beim „Nordschleswiger“ tauschen wir innerhalb des Redaktionsteams glücklicherweise nicht die Schuhe, sondern die Schreibtische, um ein besseres Verständnis vom Alltag der anderen zu erlangen.

Und so tauchte ich nach vier Jahren in meinem geliebten Sonnenburg mal wieder im Hauptredaktions-Alltag ab. Saß im Büro und telefonierte für Artikel mit dem Sozialdienst und dem LHN. Fragte mich, warum auf Gerrits Schreibtisch ein kleiner Plastikschwan sitzt und wann die Praktikantin wohl mit ihrem Kuchen eintrifft. Machte Termine mit den neuen Mitarbeiterinnen im Haus Nordschleswig aus, um sie der Leserschaft vorzustellen und verschob meinen Kontrolltermin in der Sonderburger Handambulanz von Freitag auf Montag.

Open-Air-Bühne statt Krankenhaus-Termin

Am Freitag zog ich für den „Nordschleswiger“ nämlich noch weiter gen Westen, um für die Lokalredaktion Tondern das Tønder Festival zu besuchen. Unmöglich konnte ich meinen mir per E-Box zugeteilten Termin Freitag um 9.30 Uhr in Sonderburger Krankenhaus wahrnehmen, da um 10.30 Uhr bereits das Schulkonzert an der Open-Air-Bühne begann, über das ich schreiben sollte.

Der Kontroll-Termin in der Handambulanz wurde fällig, nachdem ich am letzten Tag meiner Ferien vom Pferd gerasselt war. Das Vergnügen, übers Stoppelfeld zu galoppieren, wurde meiner Stute vergangenen Freitag ganz allein zuteil.

Statt im Sattel saß ich ungewollt am Rande des Ackers am Waldesrand. Dort war mein Pferd offenbar einem Gespenst begegnet, und nach einem Bocksprung zur Seite machte sich der Angsthase aus dem Staub, in dem ich nun lag.

Pläne fallen ins Wasser oder vom Pferd

Der Schreck saß tief und mein linker Mittelfinger enorm schief. Nach einem Anruf bei der Notarzthotline fuhr ich Freitagabend schließlich in die Apenrader Notfallambulanz. Meine Lebenswirklichkeit war ungeplant eine andere geworden. Statt im Limonadenglas schmolzen die Eiswürfel in der Plastiktüte, die ich mir um die Hand gebunden hatte. Röntgen statt Grillen. Schmerzmittel statt Sonnenuntergang. Statt ins Grillfilet biss ich die Zähne zusammen.

So schnell kann es gehen. Urplötzlich ist die Lebenswirklichkeit eine andere. Pläne fallen ins Wasser oder vom Pferd. In meinem Fall kam ich mit blauen Flecken und ausgerenktem Mittelfinger davon, den ein junger Arzt beherzt und mit lautem „Knack-Knack“ wieder an Ort und Stelle rücken konnte. „Das renkt sich schon wieder ein“ – diese Aussage hat für mich jedwede Unschuld verloren.

Manchmal renken sich Dinge schmerzhaft wieder ein, manchmal aber auch nicht. Es kommt zu Brüchen, in Knochen, Karrieren und Kontakten. Beziehungen und Lebensabschnitte enden, gewollt und ungewollt. Das fühlt sich dann erst mal blöd an. Schmerzhaft und sinnlos, und man fragt sich, wie man nur so dumm, unvorsichtig, unglücklich oder gleich alles auf einmal sein konnte.

Wer lebt, erlebt Schmerz und kein Abenteuer findet ganz ohne Unfälle statt. Kein Glück ohne Einsatz.

Sara Eskildsen, Kolumnistin

In einer Sekunde ist alles unter Kontrolle und in der nächsten nichts mehr, wie es einmal war.

All die Menschen in der Apenrader „Schadensstube“ wurden an diesem Freitagabend aus ihren Planungen herausgerissen. Der humpelnde Mann im Fahrradanzug, die deutsche Urlauberfamilie mit dem verletzten Kind, die Reiterin mit Stroh im Haar.

So wie mit unserem Schreibtischtausch erhielt ich an diesem Abend einen kurzen Einblick in ein Alltags-Paralleluniversum. Ein Sammelsurium plötzlich geänderter Lebenswirklichkeiten.

Wer reitet, fällt auch mal runter

Unverhofft kommt oft – gut, dass diese Binsenwahrheit nicht nur für Unglücks-, sondern auch für Glücksmomente gilt. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Wer reitet, fällt auch mal runter. Wer liebt, leidet mit seinen Liebsten. Wer lebt, erlebt Schmerz, und kein Abenteuer findet ganz ohne Unfälle statt. Kein Glück ohne Einsatz.

Und so nahm ich außer meinem dicken, aber ansonsten unversehrten Stinkefinger Folgendes wieder mit aus der Notfallambulanz: dass mit viel gutem Willen im Nachhinein etwas Gutes aus etwas Schlechtem hervorgeht. Stärke, Geduld, Lebenserfahrung, Vorsicht oder schlicht das Gefühl der Erleichterung, dass schlechte Zeiten und Schrecken auch wieder vorbeigehen.

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