Grenzland-Serie 2020

Mit 107 Stimmen für 19 Jahre dänisch

Mit 107 Stimmen für 19 Jahre dänisch

Mit 107 Stimmen für 19 Jahre dänisch

Peter Gram
Flensburg
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Deutsch-dänischer Wettstreit auf Abstimmungsplakaten auf dem Flensburger Südermarkt 1920 Foto: Dansk Centralbibliotek

Vor 100 Jahren stimmten Dreiviertel der Flensburger für den Verbleib ihrer Stadt bei Deutschland. Doch was wäre gewesen, wenn das Plebiszit 1920 anders ausgegangen wäre? Peter Gram, Redakteur der dänischen Regionalzeitung JydskeVestkysten mit Sitz in Esbjerg, hat sich darüber Gedanken gemacht.

Am 14. März 1920 waren die Flensburger zur Abstimmung über eine weitere Zugehörigkeit zu Deutschland oder einen Wechsel zu Dänemark  aufgerufen. Sie erwachten in einer Stadt, die mit folgendem berühmt-berüchtigten Plakat regelrecht zugepflastert war: „Arbeiter Flensburgs: Wollt Ihr den Kaiser wiederhaben? Die deutsche Regierung ist von Monarchisten gestürzt. Wilhelm unterwegs aus Holland.“ 

Es war eine Anspielung dänischer Wahlkämpfer auf den reaktionären Kapp-Putsch nur einen Tag vorher. Rechtskonservative Kreise um den preußischen Beamten Wolfgang Kapp hatten dabei versucht, die Regierungsgewalt in dem nach dem Ersten Weltkrieg darniederliegenden Deutschland an sich zu reißen. 

Bei der Anfertigung dieses auf neuerlich unruhige Zeiten in Deutschland anspielenden Flensburger Plakats wurden die Regeln der Internationalen Kommission für das Abstimmungsgebiet missachtet. Je nach Sichtweise aber war der Schaden bereits geschehen – oder der Erfolg gesichert. In Flensburg kursierten zahllose Gerüchte – die Ungewissheit war enorm, denn es dauerte seine Zeit, bis die Nachrichten durch die damals üblichen Kommunikationskanäle ihren Weg fanden. 

Der König im Konflikt mit der Regierung

„Es wird immer noch ausgezählt, Eure Majestät.“ – Diese Botschaft musste sich der dänische König Christian X. noch Tage nach der Abstimmung  anhören. Nach dem 14. März stellte sich heraus, dass sich fast ganz Mittelschleswig – mit Ausnahme einiger Gemeinden auf der Insel Föhr – für eine Zugehörigkeit zu Deutschland entschieden hatte. Einzige weitere Ausnahme war Flensburg. Dort musste immer wieder nachgezählt werden, da die Zahl der dänischen und deutschen Stimmen nahezu gleich war. 107 Stimmen gaben den Ausschlag für den künftigen Verlauf der Grenze. Und diese Stimmen waren dänisch!

Der äußerlich stets kühl und beherrscht wirkende Christian X. hatte ein empfindsames Gemüt. Als er diese  für ihn frohe  Botschaft vernahm, fiel er weinend auf die Knie, faltete die Hände – und dankte  Gott.

Damit war der König indes nicht aus der Zwickmühle. Eine Sache waren wütende Proteste auf deutscher Seite. Noch schlimmer aber war für ihn die Zurückhaltung der dänischen Regierung. Premierminister Carl Theodor Zahle von den Sozialliberalen  lehnte es schlicht ab, das Ergebnis der Abstimmung anzuerkennen. Wie die deutsche Seite war auch er der Auffassung, dass das Ergebnis einzig und allein unfeinen dänischen Methoden geschuldet gewesen sei.

Kühler Empfang für den Monarchen  

Der König reagierte aufgebracht. Unter dem Einfluss seines Beraters, Staatsrat H. N. Andersen, entließ er am 29. März die Regierung. Nach Protesten der Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokraten gegen dieses eigenmächtige Vorgehen gingen die Rechtsliberale Partei Venstre, die Konservative Volkspartei und die Wirtschaftspartei aus Neuwahlen am 26. April als Sieger hervor.  Die neue Regierung veranlasste,  Flensburg in das Königreich einzuverleiben. 

In Flensburg verhielt man sich eher abwartend. Ein Teil der Bevölkerung reagierte empört darauf, von dem „verfluchten Dänen-Pack“ betrogen worden zu sein – zumal der Kapp-Putsch schon nach 100 Stunden zum Scheitern verurteilt war. Die meisten Menschen waren indes mit ihrem Alltag beschäftigt, ein Alltag, der in Dänemark wesentlich leichter zu bewältigen war, als im immer noch unruhigen, bettelarmen Deutschland.

Als Flensburgs Oberbürgermeister Hermann Bendix Todsen am 12. Juli Seite an Seite mit führenden Repräsentanten der Stadt Christian X. einen königlichen Empfang bereitete, war die Stimmung angespannt bis kühl, wobei Todsen auf eine strenge Einhaltung des Protokolls achtete. Der König traf mit dem Auto ein. Um den Bogen nicht zu überspannen und siegreich in die südlichste Stadt seines Königreichs einzureiten, hatte der Monarch sein berühmtes weißes Pferd im Stall gelassen. Damit war er bei Christiansfeld in das ebenfalls dänisch gewordene Nordschleswig eingeritten.

Der  König machte indes keinen Hehl daraus, dass er von den Flensburger Beamten und Politikern unbedingte Gefolgschaft verlangte. Todsen versicherte den Monarchen der Loyalität der Flensburger. Er tat dies selbstverständlich auf Deutsch, denn Christian X. beherrschte die Sprache.

Boom für dänische Schulen

Zunächst sah es auch ganz danach aus, als behielten Flensburgs Optimisten Recht. Nur wenig veränderte sich. Zwar verdoppelte sich die Zahl dänischer Gemeindeschulen. Dies bedeutete allerdings nur, dass es nunmehr vielerorts zwei statt einer Schule gab. Ansonsten mischte sich der dänische Staat im Großen und Ganzen nicht ein. Die Amtssprache war nach wie vor Deutsch. Man fand sogar Arbeitsbereiche für jene Beamten, die zunächst hatten befürchten müssen, dass Dänen ihre Ämter übernehmen würden. In Flensburg gründete man eine Bahn- und eine Postdirektion Süd, deren Mitarbeiter im Vergleich zu ihren Kollegen südlich der Grenze gut entlohnt wurden.

Einzige Stadt ohne Militär- Dienstpflicht Das dänische Militär hielt seinen Einzug in die städtische Kaserne, wobei es sich auf den Straßen der Stadt eher rar machte. Bei den Soldaten handelte es sich zumeist um Nordschleswiger, die sich mit der deutschen Sprache und Kultur bestens auskannten. Sie unterstanden wiederum dänischen Offizieren, die des Deutschen mächtig waren. Die jungen Männer Flensburgs brauchten als einzige Staatsbürger des Königreichs keinen Militärdienst abzuleisten.

Die meisten deutschen Offiziere und viele Unteroffiziere ließen sich südlich der Grenze nieder. Einige suchten Aufnahme in das dänische Militär, wo sie nahezu ausnahmslos auch aufgenommen wurden.

Alles sah somit nach einem durchaus erfolgreichen Experiment aus. Vielleicht würde Flensburg mit der Zeit gar eine „echte“ dänische Stadt werden. Ähnliches fürchtete man offenbar auch südlich der Grenze. Zumindest verschärfte sich der Ton mit der Machtübernahme der Faschisten.
„Das Danzig des Nordens“, so nannte der schleswig-holsteinische Gauleiter Hinrich Lohse Flensburg und verwies dabei auf die international verwaltete Stadt am Polnischen Korridor.

Das selbe Schicksal wie Danzig

Danzig und Flensburg ereilte dasselbe Schicksal. Mit dem Überfall der Wehrmacht am 1. September 1939 auf die Freie Stadt Danzig und Polen löste Deutschland den Zweiten Weltkrieg aus. Zehn Tage später war Flensburg an der Reihe. Dänische Truppen wagten einen mutigen, doch hoffnungslosen Gegenangriff. Dabei geriet einer der ehemaligen deutschen Offiziere in Gefangenschaft. Während des Verhörs bat er in gebrochenem Dänisch um einen Dolmetscher: „Heute Morgen habe ich leider mein Deutsch vergessen“, beschied der Hauptmann dem verblüfften Vernehmungsoffizier. 

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