Leitartikel

„Die Landwirtschaft, Christiansborg und Europa: Bewegung tut gut – auf allen Seiten“

Die Landwirtschaft, Christiansborg und Europa: Bewegung tut gut – auf allen Seit

Die Landwirtschaft und die Politik: Bewegung tut gut

Apenrade/Aabenraa
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Kühe, wie hier im Bild, Schweine und Ackerland: In Nordschleswig und im ganzen Land sind viele stolz auf ihre bäuerliche Kultur (Symbolfoto). Foto: Karin Riggelsen

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Protest, Klimaziele und EU-Subventionen: Landwirtinnen und Landwirte stehen derzeit im Brennpunkt. Sie brauchen Hilfe, um sich aus ihrer Opferrolle zu befreien, meint Cornelius von Tiedemann. Ein neues Selbstverständnis müsse her – und das gibt’s nicht umsonst.

Die Landwirtschaft steht vor riesigen Umwälzungen. Die Debatte, wie zügig – und ob überhaupt – etwas passieren muss, wird schnell hitzig. In manchen Ländern in Europa eskaliert sie.

Hier bei uns hat die Regierung sich dazu entschieden, den Landwirtinnen und Landwirten möglichst wenig Veränderung zuzumuten. Nicht weil dies der sinnvollste Weg ist. Sondern, das hat Landwirtschaftsminister Jacob Jensen (Venstre) ganz offen gesagt, damit die Wut der Bauernschaft nicht auch hierzulande explodiert – und dadurch eine Zusammenarbeit schwer bis unmöglich wird.

Abwechslungsreicher Auslauf für diese Kühe in Nordschleswig (Archivfoto) Foto: Karin Riggelsen

Falsche Rücksicht auf die Landwirtschaft

Den Landwirtinnen und Landwirten tut die Regierung damit aber keinen Gefallen, auch wenn sie es vielleicht selbst glaubt. Denn die Welt dreht sich weiter, auch wenn Dänemarks Landwirtschaft nur Trippelschritte macht.

Auf europäischer Ebene haben demokratisch gewählte dänische Politikerinnen und Politiker längst eine Landwirtschafts- und Klimapolitik mit ausgearbeitet und ihr zugestimmt, die massive Umstellungen in der Förderung und Regulierung zur Folge hat.

Daheim in Dänemark wird dann so getan, als wolle „Brüssel“ nun halt dieses und jenes und man versuche alles, um die Auswirkungen auf die Landwirtschaft hierzulande so weit wie möglich abzumildern.

Das ist verlogen, es nährt den fatalen Mythos vom fernen Brüssel, das angeblich über unsere Köpfe hinweg entscheidet – und es hilft vor allem unserer Landwirtschaft nicht dabei, die Herausforderungen anzugehen, die anstehen.

Vielleicht sollten beide Seiten mal den Ja-Hut aufsetzen und die Dinge positiv sehen?

Cornelius von Tiedemann

Ehrlich währt am längsten

Die Regierung, in der die einstige Bauernpartei Venstre und ihre Abspaltung, die Moderaten, entscheidend mitgestalten, sollte sich ihrer Verantwortung stellen. Ein ehrlicher Umgang von Christiansborg mit der Politik in der Europäischen Union und ihrer machtvollen Rolle in der Landwirtschaftspolitik muss her.

Europa ist ein Gemeinschaftsprojekt, und die gemeinsame Landwirtschaftspolitik ist das größte Zusammenarbeitsfeld der Mitgliedsstaaten. Hier wird Geld verwaltet und gemeinsam reguliert wie nirgends sonst.

Ohne das wäre Landwirtschaft heute vielfach gar nicht mehr möglich. Aber es hat die Landwirtinnen und Landwirte auch in eine verhängnisvolle Abhängigkeit gebracht.

Gefühle sind manchmal wichtiger als Statistiken

Doch weshalb sind Landwirtinnen und Landwirte so sauer, wo sie doch so viele Subventionen bekommen? Und woran liegt es eigentlich, dass die Landwirtschaft in Kopenhagen noch einen so großen Einfluss hat, wenn ihre wirtschaftliche Bedeutung doch immer weiter schrumpft?

Nun, nur weil sich Fakten ändern, ändern sich Gefühle ja nicht gleich mit. Dänemark ist seit jeher ein Agrarland gewesen, eine in ganz weiten Teilen bäuerlich geprägte Kultur. Ganz vieles, was heute typisch dänisch ist, ist aus dieser Kultur entstanden.

Ob es nun die Mehrheit ist, die wirklich Bauern sind, oder nur noch eine kleine Minderheit: Das ist unsere Tradition und Identität, so das Gefühl ganz vieler Menschen. Und hier in Nordschleswig können das – auch in der deutschen Minderheit – sicherlich ganz viele unterschreiben.

Identität ist eben auch eine emotionale Geschichte. Wer da aus rationaler Sicht Veränderung will, muss sich dessen bewusst sein: Es geht nicht um simple Reformen – es geht auch um das Selbstverständnis ganz vieler Menschen.

Um Kultur geht es auch in einem anderen, wichtigen Aspekt. Viele Landwirtinnen und Landwirte sind verzweifelt, weil sie sich hilflos fühlen. Und das macht sie naturgemäß wütend.

Gülle
Das Ausbringen von Gülle und die entsprechenden Regeln dazu sind wiederkehrendes Thema in der politischen Debatte (Symbolfoto). Foto: Karin Riggelsen

„Erlernte Hilflosigkeit“: Rückzug in die Opferrolle

In „Føljeton“ wurde darüber kürzlich sehr lesenswert nachgedacht.

Eine wissenschaftliche Arbeit aus Großbritannien zeigt, heißt es da, dass Landwirtinnen und Landwirte überdurchschnittlich oft nicht bereit zu Veränderungen sind, selbst dann, wenn ihnen diese zugutekommen würden. Und dass sie Restriktionen und Eingriffe im Landwirtschaftssektor grundsätzlich als Angriff auf ihr Selbstwertgefühl erleben.

Die kommenden Zeilen sind für Betroffene vielleicht schwer zu ertragen, aber sie sind wichtig zu verstehen. Die zitierte Arbeit bezieht sich auf das Konzept der „erlernten Hilflosigkeit“ des Psychologen Martin E. P. Seligman.

Die These: Die stark subventionierten Landwirtinnen und Landwirte haben in den vergangenen Jahrzehnten gelernt, von EU-Mitteln abhängig zu sein und sich nach den umfassenden Regularien zu richten, um die Mittel zu bekommen, die sie wollen – oder benötigen, um überhaupt wirtschaften zu dürfen.

Für das Selbstwertgefühl ist das fatal.

Inzwischen agieren manche Landwirtinnen und Landwirte der These nach deshalb wie Depressive, die nicht mehr daran glauben, ihre Lage selbst verändern zu können. Und – und das ist der Knackpunkt – die deshalb auch nicht mehr daran glauben, für diesen Zustand selbst verantwortlich zu sein!

Deshalb schieben sie die Schuld für ihre Misere auf andere. Auf die EU, auf die Regierung, auf die „klimatosser“ und so weiter  – und verlangen Gerechtigkeit, was auch immer das sein soll, von der Politik.

Regierung gibt Ängsten nach, anstatt Fortschritt anzuschieben

Christiansborg gibt dann, wie beschrieben, den aus Hilflosigkeit gestellten, nachvollziehbaren Forderungen nun erneut weitgehend nach. Es wird eine Politik der Babyschritte verfolgt, um die bäuerliche Seele eines Großteils des Wahlvolkes zu beruhigen.

Das Muster wird nicht durchbrochen, die Rollen werden nicht aufgehoben, die Schützengräben bleiben besetzt.

Doch hat das Zukunft? Tut die Politik den eenigen, die es sich noch antun, tatsächlich noch Landwirtschaft zu betreiben, einen Gefallen damit?

Natürlich nicht. In der herkömmlich betriebenen und subventionierten Landwirtschaft liegt so keine Zukunft. Das haben Europas Regierungen gemeinsam doch längst beschlossen.

Kein Kompromiss – sondern ein neuer Weg muss her

Wie wäre es also mit einem dritten Weg? Einem Weg, der sowohl die Dringlichkeit der Klimapolitik berücksichtigt – als auch die Lage der Landwirtinnen und Landwirte und das kulturelle Selbstverständnis eines großen Teils der Menschen in Dänemark.

Vielleicht sollten beide Seiten mal den Ja-Hut aufsetzen und die Dinge positiv sehen? Das massive kulturelle und fachliche Potenzial, das wir in der Landwirtschaft haben, wertschätzen – und die riesigen Chancen, die für die Landwirtinnen und Landwirte in natur- und klimagerechten Umstellungen liegen, nutzen!

Die zitierte britische Arbeit argumentiert laut „Føljeton“, dass Veränderung für die Menschen in der Branche durchaus positive Folgen haben kann. Sie können neue Fähigkeiten lernen, wenn sie die Betriebe diversifizieren. Durch entsprechende Erfolgserlebnisse, auch in Hinsicht auf die Klimaziele, können Landwirtinnen und Landwirte neue Identität und neuen bäuerlichen Stolz entwickeln.

Das könnte auch zu engeren Beziehungen zur breiten Öffentlichkeit führen – die immer mehr verloren geht.

Wo ein Wille ist ...

Der britische Bericht kommt übrigens zu der einleuchtenden Feststellung, dass Fortschritt nicht durch das Festhalten an der Vergangenheit, sondern durch die Annahme von Veränderungen erreicht wird.

Beide Seiten müssen das wollen. Die Politik muss ihre Verantwortung als Gestalterinnen und Gestalter des Wandels endlich annehmen. Und die Landwirtinnen und Landwirte dürfen gerne dazu motiviert werden, mitzumachen. Ja, auch mit ökonomischen Anreizen.

Damit sie sich aus der „erlernten Hilflosigkeit“ in ein selbstbestimmtes, zukunfts-optimistisches Unternehmertum bewegen können.

Alles andere ist doch Mist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Kirsten Bachmann

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