Flucht aus der Ukraine

„Natürlich lerne ich Dänisch, auch wenn ich schon 87 Jahre alt bin“

„Natürlich lerne ich Dänisch, auch wenn ich schon 87 Jahre alt bin“

„Natürlich lerne ich Dänisch, auch wenn ich schon 87 bin“

Irina Bogovic
Apenrade/Aabenraa
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Anatolij Juchymenko
Anatolij Juchymenko Foto: privat

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Irina Bogovic, Bibliothekarin in der Deutschen Zentralbücherei Apenrade, erzählt die Geschichte von Anatolij, der einst das größte Flugzeug der Welt baute und als 87-Jähriger in Dänemark ein zweites Zuhause fand.

Am 6. Februar 2022 versammelten sich am Flughafen in Billund viele Schaulustige, um ein besonderes Ereignis zu bestaunen. Das weltweit größte Frachtflugzeug, die ukrainische Antonov AN-225, landete in Dänemark und begeisterte sowohl die Mannschaft des Billunder Airports als auch Flugzeugfans aus ganz Dänemark.

Bis zu 2.000 Menschen kamen, um das ukrainische Flugwunder „Mrija“ – übersetzt „Traum“ – live zu erleben.

Der Mann, der dieses Flugzeug in den 1980er-Jahren mitentwickelt hatte, ist der Ingenieur für Luftfahrttechnik Anatolij Juchymenko, ein Ukrainer aus Charkiw. Seine Stadt, sagt er, ist „die schönste Handelsstadt der Ukraine, beliebt bei Studierenden mit ihren mehr als 40 Hochschulen und Universitäten, einem der größten Stadtplätze Europas, dem weltbesten Taras-Schewtschenko-Denkmal, wundervollen Parks und Gärten und Heimat der ersten Universität der Ukraine“.

In Charkiw verwirklichte Anatolij seinen Kindheitstraum und baute das größte Flugzeug der Welt.

Antonov
Das größte Frachtflugzeug der Welt, die Antonov An-225 Mriya, am 5. Februar auf dem Flughafen Billund. Das ukrainische Flugzeug wurde drei Wochen später von russischen Raketen auf einem Flughafen bei Kyjiw zerstört. Foto: Bo Amstrup/Ritzau Scanpix

Der heute 87-jährige Anatolij ist zu Recht stolz auf seine Stadt und auf sein Lebenswerk. Sein Antonov-Flugzeug reiste durch die ganze Welt zu Ausstellungen, wurde stets zuverlässig eingesetzt, wenn kein anderes Fluggerät bestimmten Herausforderungen gerecht wurde. Wo immer die AN-225 auftauchte, warteten Hunderte Fans darauf, das fliegende ukrainische Nationalsymbol einmal starten oder landen zu sehen.

Dieser Traum ist nun ausgeträumt. Anatolijs Flugzeug wurde nur etwa vier Wochen nach seinem Triumph in Billund in den ersten Tagen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine vollständig zerstört.

Auch Anatolijs Leben änderte sich von Grund auf. In den ersten Kriegswochen verlor er nicht seinen Mut, hielt durch, passte seinen Alltag an den Krieg an. „Dann jedoch“, erzählt er, „begannen die russischen Barbaren, Charkiw zu bombardieren. Sie beschossen jedoch nicht militärische Objekte, sondern Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser. In meinem Nachbarhof explodierte eine Rakete. Die Druckwelle ließ nicht nur das Fensterglas splittern, sondern sie riss auch die Fensterrahmen komplett aus den Wänden.“

Um sich vor den Bomben zu schützen, hastete Anatolij in den Keller seines Wohnhauses, stürzte dabei schwer und verletzte sich am Rücken. Mitten im Bombenhagel war er drei Wochen bettlägerig und litt starke Schmerzen. Ein Segen, dass sein Enkel in der Stadt wohnt und sich, so gut es eben ging, um ihn kümmern konnte.

Anatolijs ihm eigener Optimismus und seine Entschlossenheit halfen ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Er machte sich auf den 2.400 Kilometer langen Weg nach Dänemark, wo seine Tochter lebt. Anatolij erzählt mit Dankbarkeit, wie viele Freiwillige er auf seiner Flucht traf und wie engagiert diese halfen, egal wo er hinkam.

Und das Erste, was er gleich nach seiner Ankunft in Süddänemark tat, war, sich bei einem Dänisch-Sprachkurs anzumelden. Seine Sprachgruppe bestaunte den rüstigen Senioren. Anatolij versteht diese Bewunderung gar nicht: „Natürlich lerne ich Dänisch, auch wenn ich 87 bin! Dieses Land hat mir Zuflucht gegeben, da muss ich doch wenigstens die Sprache können!“

Vor zwei Wochen bestand ein stolzer Anatolij seinen ersten Dänisch-Modultest mit Bravour und erntete großes Lob. Seine Motivation und sein ungebrochener Optimismus sind bewundernswert.

„Aber manchmal“, gesteht er, „habe ich Albträume davon, dass ich hier auf Dienstreise bin, und mich quält das schlechte Gewissen, mich in meiner Flugzeugwerft nicht ordnungsgemäß abgemeldet zu haben. Das ist mir in meinem gesamten Arbeitsleben nie passiert, und ich fühle mich schrecklich deswegen!“

Mit dem Herzen ist er noch im zerbombten Charkiw und trauert um sein Flugzeug.

Anmerkung: In der ursprünglichen Version des Textes hieß es, dass das Flugzeug im Februar 2022 erstmals in Dänemark gelandet sei. Dies ist nicht korrekt. Die Antonov AN-225 Mrija war bereits zuvor mehrfach in Dänemark zu Gast.

 

 

Dieser Gastbeitrag erschien zuerst in Claudia Knauers Blog „Knauerblog“.

 

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