Leitartikel

„Per Huckepack – ja zu Jes“

Per Huckepack – ja zu Jes

Per Huckepack – ja zu Jes

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Nordschleswig
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Vor 50 Jahren begann ein neuer Abschnitt in der politischen Geschichte der deutschen Minderheit durch die Wahl von Chefredakteur Jes Schmidt am 4. Dezember 1973 ins Folketing. Siegfried Matlok wirft für die Leser per Huckepack einen Blick hinter die Kulissen einer „Zeitenwende“ für Dänemark, Nordschleswig und die deutsche Volksgruppe.

In diesen Tagen wird in der dänischen Presse und in der Politik an ein historisches Erdbeben erinnert, das vor 50 Jahren – genau am 4. Dezember 1973 – durch die dänische Bevölkerung ausgelöst wurde. Und die sogenannten Erdrutsch-Wahlen waren auch historisch für die deutsche Minderheit, denn nach einer langen politischen Wüstenwanderung – seit 1964 ohne Abgeordneten – gelang der deutschen Volksgruppe wieder der Sprung nach Christiansborg: Per Huckepack-Verfahren wurde der damalige Chefredakteur unserer Zeitung, Jes Schmidt, als Mitglied in der Fraktion der Zentrums-Demokraten (CD) gewählt.

Zum politischen Hintergrund: Es rumorte im Volk, nur ein Jahr nach der Volksabstimmung über den dänischen Beitritt zur EWG (heute EU), die in manchen Parteien tiefe Gräben geöffnet hatte. Die alten, sogenannten staatstragenden, Parteien wurden abgestraft, zwei „Neulinge“ stürmten ins Parlament, der Steueranwalt Mogens Glistrup mit seiner Fortschrittspartei (mit 15,9 Prozent) und Erhard Jakobsen mit seiner CD (7,8 Prozent), die beide allein fast ein Viertel aller Stimmen auf ihrem (Protest-)Konto verbuchen konnten. Neben diesen „Debütanten“ gelang auch noch drei ehemaligen Parteien der Wiedereinzug ins Folketing: Kommunisten, Christliche Volkspartei und „Retsforbundet“.  Die Zahlen der politischen Erschütterung sprechen für sich: Insgesamt erreichten diese fünf Parteien 60 von 179 Folketingsmandaten, wobei Glistrup auf Anhieb sogar stärkste bürgerliche Kraft im Lande wurde.

Die Folketingswahl 1973 kam unter dramatischen Verhältnissen zustande. Dem damaligen sozialdemokratischen Bürgermeister von Gladsaxe, Erhard Jakobsen, ging im eigenen Wagen auf der Autobahn auf dem Wege nach Christiansborg das Benzin aus. Er kam dadurch zu spät zu einer wichtigen Abstimmung, und damit geriet der sozialdemokratische Staatsminister Anker Jørgensen parlamentarisch in die Minderheit – Neuwahlen!

Der populäre Erhard Jakobsen hatte schon vorher oft genug im Parlament seine Unzufriedenheit geäußert mit dem nach seiner Ansicht zu linken Kurs seines Parteivorsitzenden, und er nahm die Neuwahlen zum Anlass, eine eigene Partei, mitte-rechts von der Sozialdemokratie, zu gründen – „Centrum-Demokraterne“ (CD). Warum der als großer Europäer bekannte Jakobsen der Schleswigschen Partei anbot, einen von der Volksgruppe nominierten Kandidaten auf Platz eins seiner Liste M in Nordschleswig aufzustellen, ist nie richtig geklärt worden, obwohl er selbst stets das europäische Motiv für seine Entscheidung hervorgehoben hat.

Das Angebot schlug wie eine Bombe in der Minderheit ein – aber auch auf dänischer Seite, wo manche „Erzdänen“ Erhard Jakobsen sogar Landesverrat vorwarfen.  Am 12. November tagte der BdN-Hauptvorstand, um über das Angebot zu entscheiden – und auch über die Frage, wer denn eventuell als Kandidat in Betracht käme. Schulrat Arthur Lessow erklärte, aus grundsätzlichen Gründen könne der Hauptvorsitzende der deutschen Minderheit (Harro Marquardsen) nicht für eine dänische Partei kandidieren. Vorstandsmitglied Kley, Hadersleben, meinte laut Protokoll, dass man Jes Schmidt nicht in Nordschleswig entbehren könne, weder im Apenrader Stadtrat noch bei der Tageszeitung. Jes Schmidt schlug daraufhin den Leiter der Tingleffer Nachschule, Dr. Paul Koopmann, vor, doch Koopmann bat um Bedenkzeit …

Zwei Tage später fand die Delegiertenversammlung statt, die mit großer Mehrheit Jes Schmidt als Spitzenkandidat und als zweiten Kandidaten auch noch Chr. Nissen aus Sophiental (Sofiedal) wählte. Hinter den Kulissen war eine wichtige Vorentscheidung gefallen, denn der als Chefideologe der Volksgruppe geltende Favorit Koopmann verzichtete auf seine Kandidatur. Wie sich der gerade ins Amt neu berufene Generalsekretär Peter Iver Johannsen erinnert: Koopmann schlug stattdessen seinen „Busenfreund“ Jes Schmidt vor. Wohl auch mit der  (richtigen) Begründung, Schmidt sei der bessere politische Kopf für diese neue Aufgabe.

Weder Jes Schmidt noch das Huckepack-Verfahren mit der CD fand überall in der deutschen Volksgruppe Zustimmung, doch die 11.617 Stimmen in Nordschleswig – mit 8,2 Prozent sogar über dem Landesdurchschnitt von CD – sicherten Jes Schmidt ein sicheres Folketingsmandat. In der damaligen Sprache der Volksgruppe: Die Durststrecke war überwunden.

Das Ergebnis war aus zweierlei Gründen besonders erfreulich: Die Wählerschaft sagte „Ja zu Jes“, und Schmidt erzielte 3.807 persönliche Stimmen (Zweit-Kandidat Chr. Nissen erhielt 415). Aber da die gesamte Stimmenzahl für die CD in Nordschleswig das Stimmenpotenzial der deutschen Minderheit deutlich überschritt, war das Resultat auch ein großer Vertrauensbeweis, eine Anerkennung der dänischen Wählerinnen und Wähler für diese neue dänisch-deutsche wahltechnische Zusammenarbeit – im europäischen Geiste! 

Damit begann ein neues Kapitel in der politischen Geschichte der deutschen Minderheit, die 1979 nach dem Tode von Jes Schmidt unter unglücklichen Umständen – durch Fehler und Missverständnisse auf beiden Seiten – bedauerlich nach sechs erfolgreichen Jahren zu Ende ging.

Unverändert ist aber  – trotz des Jubiläums zum 40-jährigen Bestehen des deutschen Sekretariats Kopenhagen – eine Entscheidung, die von der Delegiertenversammlung, dem höchsten Gremium des Bundes deutscher Nordschleswiger, bis heute nie aufgegeben worden ist. – Die mehr als 50-jährige Forderung nach Abschaffung der dänischen Sperrklausel(n) gegen die deutsche Minderheit!

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