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„Ilham Tohti als Kollateralschaden? Wirtschaft schlägt Menschenrechte“

Ilham Tohti als Kollateralschaden? Wirtschaft schlägt Menschenrechte

Kollateralschaden Tohti? Wirtschaft schlägt Menschenrechte

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Berlin
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Die Opferbereitschaft und der unerschütterliche Mut des uigurischen Professors und Menschenrechtsaktivisten sind nicht nur für das Volk der Uiguren von Bedeutung, sondern dienen als Inspiration für Menschen weltweit, die sich gegen Unrecht und Unterdrückung erheben, schreibt Jan Diedrichsen in seiner aktuellen Kolumne.

Die Angst geht um. Die Angst vor weiteren Kriegen, Flüchtlingsströmen und einer Weltwirtschaftskrise, die unseren Lebensstandard und unsere Zukunft bedrohen. Wie soll es weitergehen? Immer häufiger ist zu hören und zu lesen, dass wir von unserem moralisch hohen Ross absteigen sollten; Kompromisse einzugehen sei das Gebot der Stunde.

Putin zum Beispiel sollten wir Zugeständnisse machen, um endlich „Frieden“ zu bekommen. Der andauernde Bombenterror des Nato-Mitglieds Türkei auf die Kurden in Nordsyrien wird bereits hingenommen, denn lieber Erdogan spielt in unserer Mannschaft, als dass er zum Gegner wird. Diktatoren und Autokraten sind weltweit im Aufwind.

Und schon gar nicht sollen wir die wirtschaftliche Entwicklung, das Wachstum gefährden. Mit China müssen wir einen Ausgleich finden, so das Argument. Wir brauchen den Handel, führen nicht nur Wirtschaftsbosse aus. Wer sich Ruhe erkaufen will, indem er Diktaturen und Autokraten ihre Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückungen nachsieht, sollte so ehrlich sein, auch einzugestehen, welche Folgen wir damit zumindest billigend in Kauf nehmen.

 

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

Die Geschichte von Ilham Tohti

Ein Beispiel für diese Kollateralschäden, die wir gewillt sein müssen, in Kauf zu nehmen, ist Ilham Tohti. Ilham Tohti ist ein uigurischer Professor und Menschenrechtsaktivist aus China, der aufgrund seiner Bemühungen, die Rechte der Uiguren zu verteidigen, ein schweres Schicksal zu erleiden hat. In diesen Tagen jährt sich seine Verhaftung zum zehnten Mal. Ilham Tohti ist heute 54 Jahre alt. Seine Familie hat ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.

Tohti wurde am 25. Oktober 1969 in der Autonomen Region Xinjiang in China geboren. Als Mitglied der uigurischen Gemeinschaft setzte er sich früh für die Belange seiner Volksgruppe ein. Er gründete die Webseite „Uighur Online“, die als Plattform diente, um Informationen über die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Herausforderungen der Uiguren zu verbreiten. Diese brachte ihn jedoch in Konflikt mit den chinesischen Behörden.

Im Januar 2014 wurde Ilham Tohti unter dem Vorwurf der „separatistischen Aktivitäten“ verhaftet. Seinen mutigen Einsatz für die Menschenrechte und seine friedlichen Bemühungen, den Dialog zwischen den Uiguren und der Han-Mehrheit zu fördern, hat die chinesische Regierung als Bedrohung betrachtet. Tohti wurde nach einem Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt.

Die chinesische Regierung fürchtet abweichende Meinungen insbesondere in Regionen mit ethnischen Minderheiten wie Xinjiang und versucht daher, Stimmen, die ihre Politik infrage stellen, mit aller Härte zum Schweigen zu bringen.

Internationale Proteste und Auszeichnungen

Seine Verhaftung führte zu internationalen Protesten und Rufen nach seiner Freilassung. Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen und Regierungen weltweit setzten sich für Tohti ein, der während seiner Haft misshandelt wurde. Im Laufe der Jahre erhielt er mehrere renommierte Auszeichnungen – etwa den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments.

Das Schicksal von Ilham Tohti steht stellvertretend für alle Aktivistinnen und Aktivisten in autoritären Regimen. Seine Geschichte verdeutlicht die Dringlichkeit, sich für diejenigen einzusetzen, die ihre Stimme gegen Ungerechtigkeit erheben, insbesondere in Gebieten, in denen ethnische Spannungen und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind.

Ilham Tohtis Opferbereitschaft und unerschütterlicher Mut sind nicht nur für die Uiguren von Bedeutung, sondern dienen als Inspiration für Menschen weltweit, die sich gegen Unrecht und Unterdrückung erheben. Seine Geschichte erinnert uns daran, dass individueller Mut und Einsatz für die Rechte anderer einen tiefgreifenden und positiven Einfluss haben können.

Die Förderung von Menschenrechten in China sollte nicht als Hindernis für die wirtschaftliche Zusammenarbeit betrachtet oder gar auf dem Altar des Wachstums geopfert werden. Das mag für einige naiv klingen – aber die Alternative ist, Menschen wie Ilham Tohti gleichgültig ihrem Schicksal zu überlassen.

Wer sind die Uiguren?

Die Uiguren sind eine muslimische ethnische Gruppe, die vorwiegend in der autonomen Region Xinjiang / Ostturkestan im Nordwesten Chinas lebt. Sie haben eine eigene Sprache und Kultur, die sich stark von der chinesischen Mehrheitskultur unterscheidet.

Die chinesische Regierung hat eine Politik der „Massenüberwachung“ und „Umerziehungslager“ eingeführt, die darauf abzielt, die Uiguren zu assimilieren und den Einfluss des Islam zu eliminieren. In diesen Lagern werden Uiguren ohne Gerichtsverfahren festgehalten und einer politischen Umerziehung unterzogen. Es gibt Berichte über Zwangsarbeit, Folter und Missbrauch in diesen Einrichtungen.

Die Uiguren werden auch durch massive Überwachungstechnologien wie Gesichtserkennung, Handyüberwachung und DNA-Analysen kontrolliert. Diese Maßnahmen tragen dazu bei, die Bewegungen und Aktivitäten der Uiguren zu überwachen und ihre kulturelle Identität zu zerstören.

Internationale Menschenrechtsorganisationen und Regierungen weltweit haben die Unterdrückung der Uiguren verurteilt und sprechen sogar von einem Genozid.

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