Leitartikel

„Ich sehe was, was du nicht siehst“

Ich sehe was, was du nicht siehst

Ich sehe was, was du nicht siehst

Apenrade/Aabenraa
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Die Vorratsdatenspeicherung ist in Dänemark noch immer Tatsache – auch nach dem Skandal um falsche Bewegungsdaten und Tausende davon betroffene Urteile. Es wäre an der Zeit, auf Christiansborg nach dem Sinn der Massenüberwachung zu fragen, anstatt immer weiter blind an ihren nicht nachgewiesenen Nutzen zu glauben, meint Cornelius von Tiedemann.

In den Medien ist seit Monaten nichts mehr über die Vorratsdatenspeicherung geschrieben worden, die Dänemarks Regierung in dem Wissen weiterbetreiben lässt, dass sie laut Europäischem Gerichtshof gesetzeswidrig ist.

Das Urteil ist viele Jahre alt und verbindlich. Doch es wird in Dänemark nicht respektiert. Auch dann nicht, wenn Mette Frederiksen plötzlich gegenüber Regierungschefs aus Osteuropa von einem „europäischen Geist“ spricht, dem man gerecht werden solle.

In Dänemark ist dessen ungeachtet weiterhin ein Überwachungssystem installiert, das grundsätzlich alle Verbindungs-Informationen (wer, wann, wo, mit wem) zu Kurznachrichten-, Internet- und Telefonverbindungen speichern lässt, um sie auf Anforderung Polizei und Geheimdiensten vorlegen zu können.

Die dänische Regierung und Justizminister Nick Hækkerup setzen weiter darauf, dass es eben Zeit brauche, die dänischen Gesetze anzupassen. Er will neue Gesetze vorbereiten. Wie schon seine Vorgänger es vorhatten. Oder eben auch nicht. Denn es geht ganz offenbar vor allem darum, so lange mit der laut EU illegalen Überwachung fortzufahren, wie irgend möglich.

Dabei ist sie alles andere als ein Geschenk für diejenigen, die nach Gerechtigkeit streben.

Denn anstatt massenweise Verbrechen aufzuklären, verursacht die Überwachung neue Ungerechtigkeit. Anfang des Jahres wurde bekannt, dass private SMS-Nachrichten von bis zu 1.000 nichtsahnenden Bürgern von einem Telefonanbieter an die Polizei ausgehändigt wurden. Ihre gesamte SMS-Korrespondenz lag plötzlich für Polizeibeamte offen zutage.

Angeblich soll es sich um ein Versehen gehandelt haben. Eines, das sich allerdings wiederholt hat, bis das Problem laut Reichspolizei gelöst wurde.

Der „Teledataskandal“ ist ein weiteres Beispiel. Die Polizei hat etliche Daten falsch verarbeitet und so müssen 10.700 Rechtsverfahren wieder eröffnet werden, in denen die Vorratsdaten als Beweis bzw. als Indiz in den Ermittlungen dienten.

Und  es ist durchaus denkbar, dass fehlerhafte dänische Daten auch in Ermittlungen und Prozessen gegen Bürger aus anderen EU-Ländern und in anderen EU-Ländern genutzt wurden.

Sämtliche Bürger im eigenen Land anlasslos zu überwachen und dann mit den Daten zu schludern – das ist schon ein starkes Stück. Aber danach nicht innezuhalten und den eingeschlagenen Weg nicht infrage zu stellen – das ist bedenklich.

Ja, Vorratsdatenspeicherung kann zu mehr Verurteilungen führen. Doch wie sich gezeigt hat, auch deshalb, weil möglicherweise Unschuldige aufgrund falscher Daten verurteilt wurden – und die tatsächlichen Täter somit vielleicht ungestraft davonkamen.

Die anlasslose Überwachung hat hierzulande in letzter Konsequenz dazu geführt, dass das rechtsstaatliche Prinzip ad absurdum geführt wird. Die Polizei brauchte nur eine Liste mit Namen hervorholen, auf der Menschen stehen, die sich laut Vorratsdaten in Tatortnähe aufgehalten haben. Wer auf dieser Liste stand, musste sich plötzlich verteidigen, um nicht verurteilt zu werden. Die Staatsanwaltschaft brauchte in vielen Fällen nicht einmal ein Motiv oder einen Nachweis des Verbrechenshergangs. Es galt also, bis nach dem „Teledataskandal“ die juristische Nutzung der Daten (durch den Reichsadvokaten, den obersten dänischen Staatsanwalt, nicht durch die Politik!) vorübergehend ausgesetzt wurde, nicht mehr die Unschuldsvermutung. Und es kam zu Fehlurteil nach Fehlurteil.

In vielem kann Deutschland von Dänemark lernen – in sehr vielem. Aber in einigen Fällen lohnt sich auch der Blick über die Grenze in die andere Richtung. So hat das Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht schon vor vielen Jahren festgestellt, dass der Wegfall der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland kein Verlust an Schutz für die Bevölkerung darstellt. Im Gegenteil. Die Vorratsdaten haben der Polizei in Deutschland demnach nicht dabei geholfen, die Aufklärungsquote im Vergleich zu Zeiträumen ohne Vorratsdatenspeicherung zu verbessern. Für die Schweiz gilt dasselbe. Auch eine abschreckende Wirkung sei nicht festzustellen und terroristische Anschläge seien durch die Vorratsdatenspeicherung kaum zu verhindern. Auch andere Untersuchungen und Statistiken legen dies nahe.

In Deutschland wurde die Vorratsdatenspeicherung zuletzt ausgesetzt, bis auf europäischer Ebene endgültig Rechtsklarheit herrscht. Möglicherweise wäre das auch ein gangbarer Weg für Dänemark. Denn die Befürworter der Methode sehen etwas in ihr, was Wissenschaftler nicht sehen: Ein Allheilmittel für die Sicherheit in der modernen Welt. Doch das gibt es nicht – und eine Pause täte gut, um sich neu zu orientieren und zu fragen, wie Sicherheit geschaffen und dabei größtmögliche Freiheit bewahrt werden kann.

 

 

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