Minderheiten in Europa

Polnische Minderheit in Belarus: Vorsitzende weiter in Haft, ihr Gesundheitszustand ist kritisch

Polnische Minderheit in Belarus: Vorsitzende weiter in Haft

Polnische Minderheit in Belarus: Vorsitzende weiter in Haft

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Berlin/Brüssel
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Oppositionsführer Sergei Tichanowski muss für 18 Jahre ins Straflager. Foto: Sergei Kholodilin/AFP/Ritzau Scanpix

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Die angespannte Lage in Belarus macht auch den Minderheiten im Lande zu schaffen. Die polnische Volksgruppe ist ins Fadenkreuz des Lukaschenko-Regimes geraten, weil ihre Führung die Opposition unterstützt. Ein Bericht von Jan Diedrichsen.

Ein Gericht in Belarus hat am Dienstag den Oppositionsführer Sergei Tichanowski zu 18 Jahren Gefängnis – abzusitzen unter verschärften Bedingungen in einer Strafkolonie – verurteilt. Sein Vergehen: Er hatte sich erdreistet, gegen den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr anzutreten. Er wurde wegen angeblicher Organisation von Massenunruhen und der Aufstachelung zu sozialem Hass schuldig gesprochen.

Er stand zusammen mit vier weiteren Angeklagten vor Gericht, darunter der 65-jährige Nikolai Statkewitsch (14 Jahre Gefängnis), der bei den Präsidentschaftswahlen 2010 gegen Lukaschenko kandidierte. Die vier weiteren Angeklagten: Ihar Losik (15 Jahre), Uladzimir Tsyhanovich (15 Jahre), Artsiom Sakau (16 Jahre), Dmitry Popov (16 Jahre).

Das belarussische Menschenrechtszentrum Viasna, das selbst von den Machthabern in Minsk verfolgt wird, führt auf der Liste der politischen Gefangenen des Landes aktuell 920 Personen: Hier die Liste, samt Adressen der Gefängnisse, in denen sich die politischen Gefangenen vermutlich aufhalten.

Einer der 920 Namen gehört Andżelika Borys – der Vorsitzenden der Union der Polen in Belarus. Die Redaktion des Völker- und Menschenrechtsblogs VOICES steht im Kontakt mit Vertretern der polnischen Minderheit in Belarus. Das Regime rächt sich an den Polen für ihre Unterstützung der Opposition: Schulen wurden geschlossen, führende VertreterInnen des polnischen Dachverbandes verhaftet.

Unabhängigen Quellen zufolge hat sich der Gesundheitszustand von Andżelika Borys, die über acht Monaten in einem Gefängnis in der Nähe von Minsk festgehalten wird, rapide verschlechtert. Sie benötigt eine sofortige medizinische Untersuchung mit Spezialgeräten und eine ständige medizinische Betreuung, wie Vertreter der Union der Polen, die anonym bleiben wollen, berichten. Die Bedingungen, unter denen sie in diesem Gefängnis festgehalten wird, seien katastrophal. Das Lukaschenko-Regime hat Andżelika Borys vollständig von der Außenwelt isoliert, ihr jeglichen Rechtsschutz genommen und sie psychischem Terror ausgesetzt.

Andżelika Borys wurde in Grodno unter dem lächerlichen Vorwurf verhaftet, das traditionelle Osterfest „Kaziuki in Grodno“ ohne die erforderliche Genehmigung organisiert zu haben, und anschließend wegen „Aufstachelung zum Hass“ und „Verherrlichung von Naziverbrechen“ angeklagt.

Seit Beginn der Protestbewegung gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 unterstützt Polen gemeinsam mit Litauen aktiv die belarussische Opposition. Alexander Lukaschenko hat diese Unterstützung seit Beginn der Protestbewegung genutzt, um die Bedrohung durch einen äußeren Feind zu kreieren, der für die Proteste verantwortlich sei. Alexander Lukaschenko beschuldigte Polen, die Region Grodno übernehmen zu wollen. Hier leben viele Angehörige der polnischen Minderheit und die Proteste waren in der Region besonders ausgeprägt.

Berichte von der polnischen Minderheit

Am 25. März durchsuchten Sicherheitsbeamte die Wohnung des Grodnoer Journalisten Andrzej Poczobut. Bei ihm wurden zwei Laptops, Disketten, alte Telefone, Literatur und Dokumente in polnischer Sprache sowie Auszeichnungen beschlagnahmt. Die Ehefrau des Journalisten erklärte, er stünde im Verdacht, zu rassistischen, nationalen, religiösen oder anderen sozialen Feindseligkeiten oder zum Hass aufgestachelt zu haben. Andrzej Poczobut wurde inhaftiert und befindet sich wie die Vorsitzende Andżelika Borys bis heute in Haft.

Hintergrund: Die polnische Minderheit in Belarus

Die polnische Minderheit in Belarus zählt laut der Volkszählung von 2019 offiziell 287.693 Personen. Nach Angaben des polnischen Außenministeriums liegt die Zahl jedoch bei bis zu 1.100.000. Mit einem Anteil von rund 3,1 Prozent an der Gesamtbevölkerung bildet sie nach den Russen die zweitgrößte ethnische Minderheit im Land. Bei der letzten Erhebung im Jahr 1989, die noch unter den sowjetischen Behörden durchgeführt wurde, wurden 413.000 Polen erfasst.

Der 1992 unterzeichnete polnisch-belarussische Vertrag über gute Nachbarschaft, freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit bildete die Rechtsgrundlage für die Einrichtung polnischer Schul- und Bildungsverbände in Belarus. Aufgrund der relativ freizügigen Haltung der belarussischen Führung begannen Aktivisten der polnischen Minderheit damit, Polnisch-Unterricht zu organisieren, vor allem in der Region Grodno/Hrodna, in der laut Volkszählung 223.000 Angehörige der polnischen Minderheit leben. Ihre Bemühungen führten dazu, dass die Zahl der jungen Menschen, die Polnisch lernen und Schulen mit Polnisch als Unterrichtssprache besuchen, stetig zunimmt.

In den letzten zehn Jahren hat die belarussische Regierung jedoch intensive Maßnahmen ergriffen, um den Zugang der Kinder zum Unterricht in Polnisch als Unterrichtssprache zu erschweren. Die Repressionen richteten sich gegen alle Formen der Bildung, die verfügbar waren. Dies geschah, obwohl die belarussische Verfassung den nationalen Minderheiten den freien Zugang zum Unterricht in ihrer Muttersprache garantiert.

Erstmals erschienen unter www.gfbv-voices.org.

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Cornelius von Tiedemann
Cornelius von Tiedemann Stellv. Chefredakteur
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