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„Memorial liquidiert – Stepan Petrov wartet auf seine Verurteilung“

Memorial liquidiert – Stepan Petrov wartet auf seine Verurteilung

Memorial liquidiert – Stepan Petrov wartet auf Verurteilung

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Apenrade/Aabenraa
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Am Dienstag wurde eine der letzten Bastionen der Bürgerrechtsbewegung in Russland verboten, berichtet Jan Diedrichsen in seiner Kolumne. Memorial stand nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 30 Jahren symbolisch für den demokratischen Aufbruch des Landes.

Russland hat an der Grenze zur Ukraine rund 100.000 Soldaten aufmarschieren lassen. Mit dieser Machtdemonstration zerrt der Kreml die USA an den Verhandlungstisch. Die Europäer stehen hilflos dabei. Wir ärgern uns zwar insgeheim, dass Biden direkt mit Putin verhandelt und wir selbst nur Zaungast im eigenen geopolitischen Garten bleiben. Gleichzeitig sind wir froh, dass der große Bruder USA an der Ostgrenze den wütenden russischen Bären in Schach hält. Wer sonst?

Es wirkt wie ein schlechter Scherz: 30 Jahre ist es her, als die Welt vom „Ende der Geschichte“ zu träumen anfing; die Sowjetunion war sang- und klanglos untergegangen.

„Schauprozess“

Blicken wir heute nach Moskau, 30 Jahre nachdem Hammer und Sichel am Kreml eingeholt und die russische Fahne gehisst wurden, herrscht weniger Enttäuschung als vielmehr Befürchtung, wo dieses Abgleiten in die Diktatur nur enden mag.

Am Dienstag hat Putin gegen eine der letzten Bastionen der kritischen Zivilgesellschaft den Schlag angesetzt. Das Oberste Gericht in Moskau hat die renommierte und im Westen bekannte Menschenrechtsorganisation Memorial „liquidiert“, so der russische Ausdruck für diesen Vorgang. In den Fluren des Gerichtes erschallte nach dem Schauprozess in wütender Verzweiflung immer wieder Позор! (Schande). Putin wird es nicht kümmern. Er nimmt schon lange keine Rücksicht mehr auf die demokratische Opposition des Landes.

Memorial und die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) verbindet eine lange Wegstrecke. 2009 erhielt die Organisation, die sich auch der Dokumentation und der Erinnerung an die Verbrechen Stalins und der Sowjetunion verschrieben hat, den Victor-Gollancz-Preis der GfbV, als „Verneigung vor dem beispiellosen Mut ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die für ihr aufopferungsvolles Menschenrechtsengagement in einer feindlich gesinnten Umgebung täglich ihr Leben riskieren“, hieß es in der Begründung. Und weiter: „Memorial steht für eine liberale politische Kultur, die diesen Namen auch verdient und die in den 1990er Jahren versucht worden ist, im Grunde mit Gorbatschow begonnen hat und nun stirbt – oder nur keimhaft durch eine Organisation wie Memorial am Leben erhalten wird!“ Was damals als „sterbende liberale, politische Kultur in Russland“ ausgemacht wurde, ist mit der Liquidierung von Memorial endgültig gestorben.

Vorkämpfer für indigene Völker

Schließen möchte ich diese Kolumne mit einem Blick ganz in den Norden. Denn während sich die Weltöffentlichkeit über die skandalöse Behandlung von Memorial in Moskau zu Recht aufregt, findet der Protest im Kleinen tagtäglich, tausendfach und unbeschreiblich mutig statt. Stepan Petrov ist Direktor der gemeinnützigen Organisation „Jakutien – Unsere Meinung“. Er setzt sich für die Rechte der indigenen Völker des Nordens ein. Zum Ärgernis der Machthaber, die ihn drangsalieren. Stepan Petrov wird als „ausländischer Agent“ geführt. Was im ersten Moment kafkaesk wirken mag, ist bitterer Ernst. Wer als ausländischer Agent registriert wurde (Memorial geschah dies auch) und es bei öffentlichen Wortmeldungen nicht kundtut, dem drohen empfindliche Geldstrafen und Gefängnis.

Stepan Petrov wurde kürzlich wegen Zuwiderhandlung gegen seinen Status als „Ausländischer Agent“ zu einer Geldstrafe verurteilt. Er ist ein unbeugsamer Mann – er schrieb uns: „In Russland kommt es zu einem beispiellosen Vorgehen gegen Dissidenten. Schon drei Tastenanschläge auf einer Computertastatur können zu einer Gefängnisstrafe führen. Da ich die Willkür des russischen Justizsystems kenne, war ich auf eine solche Entscheidung vorbereitet, aber nicht auf eine so unverfrorene Arroganz und das Niedertrampeln aller Grundrechte in diesem Prozess. Dieses System wird weiter funktionieren, ich denke, ein Strafverfahren gegen mich ist nicht mehr weit entfernt.“

Die Kameras werden nicht auf Stepan Petrov gerichtet sein, wenn er verurteilt werden sollte. Dennoch wird er nicht schweigen.                

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