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„Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wird es eng“

Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wird es eng

Für den türkischen Präsidenten wird es eng

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Apenrade/Aabenraa
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Ein Alevit will Präsident werden und erhält dabei Unterstützung von den Kurden. Warum das ein Erfolgsrezept sein könnte, erklärt Jan Diedrichsen in seiner Kolumne.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

Sollte Recep Erdoğan am 14. Mai die türkische Präsidentschaftswahl verlieren, wäre das ein Grund zum Feiern. Seine Politik ist auf die Spaltung der Bevölkerung ausgerichtet, und der sogenannte politische Islam dominiert Politik und Gesellschaft des Landes. Die Türkei rückt immer weiter von demokratischen Standards ab.

Sollte sein Widersacher Kemal Kılıçdaroğlu gewinnen, wird sich die Situation in der Türkei nicht über Nacht ändern, und schon gar nicht darf erwartet werden, dass den Kurden, den Aleviten (siehe Infokasten am Ende des Artikels) und anderen Minderheiten des Landes schlagartig Gleichberechtigung und Autonomie winken.

Wiederwahl hätte weitreichende Folgen

Wer Kemal Kılıçdaroğlu und seine teilweise nationalistische parteipolitische Allianz gegen Erdoğan als Heilsbringer ersehnt, wird enttäuscht werden. Aber eingedenk all dessen wäre die Niederlage Erdoğans am 14. Mai dennoch ein berechtigter Hoffnungsschimmer.

Die Türkei steht vor einer Schicksalswahl mit kaum zu überschätzenden Auswirkungen auf Europa und den gesamten Nahen Osten. Die immer offener minderheitenfeindliche und zunehmend religiös-islamistische Ausrichtung Erdoğans und seines korrupten AKP-Clans hat, gepaart mit einer erratischen Wirtschaftspolitik und selbstherrlichem Agieren des Autokraten, das Land in eine katastrophale Lage geführt. Hinzu kommen die verheerenden Nachwirkungen des Jahrhunderterdbebens, das neben dem menschlichen Leid einen unvorbereiteten Staat, der teilweise hilflos-chaotisch agierte, vorführte.

Alevitisches Glaubensbekenntnis

Der Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu zündete im Wahlkampf eine mediale Bombe, indem er offen über seinen alevitischen Glauben sprach. Ein mutiger Schachzug in einem Land, das immer weiter religiös unversöhnlich erscheint. In einer Videobotschaft mit dem Titel „Alevi“ (Alevit) sprach Kılıçdaroğlu über seinen Glauben.

Auch Vertreter seiner eigenen Partei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), hatten im Vorfeld zum Wahlkampf kritisch argumentiert, dass die Konservativen und Islamisten in der Türkei keinen Aleviten wählen würden. Kılıçdaroğlu ist der erste Alevit an der Spitze der CHP. Doch scheinen die ersten Reaktionen und Umfragen darauf hinzudeuten, dass die Wählerinnen und Wähler das Bekenntnis des Kandidaten positiv aufnehmen.

Kurden unterstützen Botschaft

Auch die Kurden haben sich in dem Wahlkampf positioniert. Der seit mehr als sieben Jahren inhaftierte Kurdenführer Selahattin Demirtaş war einer der ersten Politiker, die das Video von Kılıçdaroğlu lobten und auf Twitter retweeteten. „Es ist möglich, in diesem Land ein gleichberechtigtes, brüderliches und friedliches Leben ohne Diskriminierung zu führen“, schrieb er. „Ich unterstütze diese schöne Botschaft von ganzem Herzen.“

Die pro-kurdische Demokratische Volkspartei (HDP) kündigte bereits im vergangenen Monat an, dass sie keinen Präsidentschaftskandidaten aufstellen werde, was die Chancen von Kılıçdaroğlu gegen Erdogan erhöht. Die HDP ging sogar noch weiter: Der Co-Vorsitzende der Partei, Mithat Sancar, empfahl kürzlich öffentlich, Kemal Kılıçdaroğlu zu wählen.

Als erste Amtshandlung will dieser wiederum Selahattin Demirtaş aus dem Gefängnis entlassen, wie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mehrmals verlangt. Er hat vor Journalisten und im Beisein von HDP-Politikern erklärt, dass die Lösung der Probleme der Türkei, „einschließlich des Kurdenproblems“, im Parlament liege.

Aleviten

Die Aleviten sind eine religiöse Minderheit in der Türkei, die sich von der überwiegenden Mehrheit der Muslime unterscheidet. Sie praktizieren einen einzigartigen Glauben, der Elemente des Sufismus, des Schamanismus und anderer traditioneller türkischer Glaubensrichtungen einschließt.

Die Aleviten stellen eine bedeutende Minderheit in der Türkei dar, schätzungsweise zwischen 10 und 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie sind hauptsächlich im Osten und Süden der Türkei ansässig, obwohl es auch Aleviten in anderen Regionen des Landes gibt.

Die Aleviten haben eine eigene religiöse Hierarchie, die von einem spirituellen Führer namens Dedes (oder Pir) geleitet wird. Die Gemeinden treffen sich in Gebets- und Versammlungshäusern, die als Cem-Häuser bekannt sind, um ihre Rituale und Zeremonien durchzuführen. Die Aleviten betonen Gleichheit, Toleranz und Humanismus und setzen sich für soziale Gerechtigkeit und Frieden ein.

In der türkischen Geschichte haben die Aleviten oft Diskriminierung und Verfolgung erfahren, insbesondere während der Osmanischen Herrschaft und in der frühen türkischen Republik. Auch unter der Herrschaft von Präsident Erdoğan und vor allem durch die Islamisten des Landes werden die Aleviten bedroht.

Kurden

Die Kurden sind ein Volk, das hauptsächlich in der Region Kurdistan lebt, die sich über den östlichen Teil der Türkei, den Nordwesten des Iraks, den Norden Syriens und den Nordwesten des Irans erstreckt. In der Türkei machen die Kurden etwa 18 bis 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus und sind somit die größte ethnische Volksgruppe des Landes.

Die Kurden sprechen eine eigene Sprache und haben eine jahrhundertelange eigenständige Kultur und Tradition. Sie haben in der Vergangenheit um mehr Autonomie und Anerkennung ihrer kulturellen Identität in der Türkei gekämpft und wurden dabei brutal unterdrückt.

Die Regierung der Türkei hat lange Zeit alles Kurdische zu assimilieren und den Einsatz der Sprache in Schulen und öffentlichen Einrichtungen verboten. Im Jahr 2013 begannen die Regierung und die Kurden kurzzeitig, Friedensgespräche zu führen, und es wurde eine Waffenruhe zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) vereinbart. Diese Waffenruhe wurde jedoch 2015 gebrochen, und es kam zu schweren Kämpfen in der Region. Unter Erdoğan wurden die Auseinandersetzungen immer wieder politisch instrumentalisiert, und eine Einigung zwischen dem türkischen Staat und den Kurden rückte in weite Ferne.

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