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„Die Kurden: Zerrissen zwischen dem Verrat der Weltgemeinschaft und einer versagenden Elite“

Die Kurden: Zwischen Verrat und einer versagenden Elite

Die Kurden: Zwischen Verrat und einer versagenden Elite

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Brüssel/Apenrade
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Das Schicksal der Kurden steht derzeit deutlich wie nie für das Versagen der Weltgemeinschaft, Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie im Nahen Osten herzustellen, meint Jan Diedrichsen.

Seit April dieses Jahres findet in Südkurdistan (Nordirak) wieder eine massive Militäroperation der türkischen Armee statt. Im benachbarten Iran und vor allem in den kurdischen Gebieten des Iran kommt es seit dem 16. September zu massiven Aufständen gegen die Regierung, nachdem die Kurdin Jîna Mahsa Aminî von der iranischen Sicherheitspolizei getötet wurde. Die Sicherheitskräfte der Türkei haben wiederum unlängst eine Frau verhaftet, die angeblich im Auftrag der PKK die Bombe gelegt haben soll, die in einer belebten Fußgängerzone in Istanbul Anfang der Woche explodierte und zahlreiche Todesopfer forderte. Die Nato-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands hängt von der Zusage ab, Kurden auszuliefern, die von der Türkei verdächtigt werden, terroristische Verbindungen zu haben.

Das Schicksal der Kurden steht derzeit deutlich wie nie für das Versagen der Weltgemeinschaft, Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie im Nahen Osten herzustellen. Ein kurdisches Sprichwort besagt: „Die Kurden haben keine Freunde außer den Bergen.“  Es scheint eine der tragischen Konstanten im Nahen Osten zu sein, dass die Kurden seit Ende des Ersten Weltkriegs in jeden Konflikt hineingezogen werden, um am Ende immer die Verlierer zu sein. Als Fußsoldaten haben sich die kurdischen Kämpfenden bei der blutigen Zerschlagung des sogenannten Islamischen Staates (DAESH) als Kriegs-mitentscheidend bewährt. Als Dank gab es den Verrat nach dem Abzug der amerikanischen Truppen aus Syrien. Die Türkei darf in der Region frei schalten und walten, morden und vertreiben. Die Türkei unterdrückt nicht nur im eigenen Land, sondern auch in Syrien geht man mit aller Gewalt gegen jegliche Autonomiebestrebungen der Kurden vor.

Gleichzeitig ist die tragische Situation der Kurden auch ein eklatantes Versagen der eigenen Eliten und das in allen Teilgebieten Kurdistans. Die PKK und ihre vielen Sympathisantinnen und Sympathisanten auch in Europa müssen sich die Frage gefallen lassen, was ihr über Jahrzehnte andauernder bewaffneter Kampf für die kurdische Sache gebracht hat und ob es nicht an der Zeit wäre, sich von den Lehren (wer hat sie gelesen?) des inhaftierten PKK-Führers Öcalan zu distanzieren. Die Macht in Irakisch-Kurdistan teilt sich derweil auf zwei verfeindete Lager auf, die sich jeweils Geld und Einfluss sichern und dabei nicht gewillt sind, auch nur eine Handbreit der eigenen Pfründe infrage zu stellen. Es wuchert ein System, das mit Demokratie nur am Rande etwas zu tun hat.

Es ist für Außenstehende schwer, die verschiedenen Konfliktlinien innerhalb der Kurden-Fraktionen wirklich zu durchdringen. Auch weil vermeintlich neutrale Akteure – Politikerinnen und Politiker sowie Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten inklusive – oft eine (versteckte) politische Agenda verfolgen. Der innerkurdische Kampf um Macht, Deutungshoheit und Pfründe wird oft mit dem Impetus des „Neutralen“ geführt. Ein Ausweg aus der Misere in einer beinah ausweglosen geopolitischen Konstellation ist nicht in Sicht: Auf allen Ebenen ist die kurdische eine tragische Geschichte.

Doch wer sind die Kurden, und wie kommt es zu der dramatischen Situation in gleich mehreren Ländern des Nahen Osten: Die Kurden sind ein bevölkerungsreiches, überwiegend muslimisches Kulturvolk. Sie haben ihre eigenen Traditionen, ihre eigene Sprache, die meisten Kurden sprechen eines der beiden Hauptidiome. Während viele Länder nach dem Ersten Weltkrieg vereint wurden und Eigenstaatlichkeit erlangten, wurde die Teilung Kurdistans immer mehr vertieft. Es wurde in vier Teile aufgeteilt, die in den Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien liegen. Die Folgen dieser willkürlichen Aufteilung Kurdistans wirken brutal bis heute fort. Es leben rund 30 Millionen Kurden in der Region, etwa die Hälfte davon in der Türkei. Der Irak ist das einzige Land, das eine autonome kurdische Region eingerichtet hat, die als Irakisch-Kurdistan bekannt ist.

Die Kurden wurden in der Geschichte auf alle möglichen Arten verraten und unterdrückt, oft sehr gewaltsam. Vor allem die Türkei betreibt seit Jahrzehnten eine Politik der Zwangsassimilierung der Kurden sowie der grundsätzlichen Verleugnung einer eigenständigen kurdischen ethnischen Identität, mit allem, was dies an Repressalien mit sich führt.

Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Feryad Fazil Omar, Leiter und Gründer des kurdischen Instituts in Berlin sowie langjähriger Vorsitzender der Gesellschaft für bedrohte Völker: „Nie haben Kurden ein anderes Land mit Krieg überzogen, sondern da, wo sie an Konflikten beteiligt sind und waren, sind sie immer von anderen Mächten hineingezogen und zur Verteidigung gezwungen worden, wie das die Weltgemeinschaft auch am Beispiel des sogenannten Islamischen Staates erlebte. Da auch die Kurden den Frieden lieben, verdienen sie es wie andere Völker auch, nicht im Feuer, sondern im Frieden zu leben.“

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Cornelius von Tiedemann
Cornelius von Tiedemann Stellv. Chefredakteur
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