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„Armenier aus Arzach: Wir haben keinen Ort, um unsere Toten zu begraben“
Armenier aus Arzach: Wir haben keinen Ort, um unsere Toten zu begraben
Arzach: Wir haben keinen Ort, um unsere Toten zu begraben
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Es findet ein Massenexodus der Armenierinnen und Armenier aus Arzach statt. In der Enklave regiert die Willkür des Diktators in Aserbaidschan.
Es sind herzzerreißende Bilder, die uns derzeit aus Arzach/Berg-Karabach erreichen. Zu Tausenden fliehen die Bewohnerinnen und Bewohner aus ihrer Heimat. Aus Angst vor den neuen Herrschern – dem Militär aus Aserbaidschan.
In den vergangenen Jahren haben Armenien und Aserbaidschan blutige Kriege geführt. Die Rhetorik aus Aserbaidschan ist erschreckend. Den christlichen Erzfeind gilt es zu vernichten. Natürlich denken nicht alle Menschen aus Aserbaidschan so, aber der Hass gegen die Armenierinnen und Armenier ist Staatsraison und hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder in bestialischen Morden und Folterungen von Armeniern Bahn gebrochen.
Wenn die beiden islamistischen Autokraten Ilham Alijew und dessen Waffenbruder Recep Erdogan aus der Türkei nun über den Blitzsieg gegen die Armenier in Berg-Karabach gemeinsam frohlocken, zeigt sich erneut, was geschieht, wenn man den politischen Islam nicht als das wahrnimmt, was er ist: eine akute Gefahr für Frieden und Sicherheit in Europa sowie die gesamte Region. Ganz unmittelbar gefährlich und sogar tödlich ist er für alle anders-denkende, -liebende oder -gläubige Menschen.
Die Armenierinnen und Armenier, die nun zu Zehntausenden aus ihrer Heimat fliehen, haben eines gemeinsam: Niemand glaubt den Sicherheitsbekundungen aus Baku. Der sogenannte Westen gilt dort mit seinen hehren Worten gar nichts, und die angebliche christlich-orthodoxe „Schutzmacht“ Russland hat die Armenier nicht beschützt, als die aserbaidschanischen Panzer rollten.
Von den rund 120.000 Armenierinnen und Armeniern in Arzach sollen bereits rund ein Drittel geflohen sein. Mit keiner Aussicht, im Laufe ihres Lebens noch mal in die Heimat zurückkehren zu können.
Wer die Geschichte der Armenier kennt und den Völkermord der Jungtürken 1915 an geschätzten 1,5 Millionen Armeniern (bis heute weigert sich Ankara, das Menschheitsverbrechen anzuerkennen) – der kann vielleicht erahnen, was für generationsübergreifende Traumata sich derzeit entfalten mögen. In diesen Tagen muss ich immer wieder an den großen, schrecklichen Roman von Franz Werfel, „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, denken. Was in den Köpfen, den Seelen der Armenierinnen und Armenier derzeit vorgehen mag? Sie wissen nicht, was die Zukunft bringt, nur dass sie ihre Heimat wohl nie wieder sehen werden. Sie betrauern ihre Toten oder wie es ein Armenier der BBC erzählte: „Wir haben keinen Ort, um unsere Toten zu begraben.“
Es ist beschämend, wie komplett machtlos die Europäische Union mit ihren „besorgten Mahnungen“ dasteht, wenn sie den Diktator in Baku nach seinem über Monate wenig kaschierten Angriff „an den Verhandlungstisch“ zu drängen sucht. Doch warum soll er verhandeln? Er hat alles erreicht. Noch im Juli hatten die EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen und auch Bundeskanzler Olaf Scholz den Diktator aus Baku als einen „verlässlichen Partner“ gelobt. Verlässlich, weil er mit seinen reichen Vorkommen an Gas den Ausfall des russischen Lieferanten kompensieren half. Da macht man gute Miene zum bösen Spiel, wenn es um Menschenrechte geht, die in Aserbaidschan schon immer mit Füßen getreten werden.
Die vergangenen Tage zeigen einmal mehr die Gefahr, wenn die Europäische Union sich mit Diktatoren und Autokraten abgibt und wie im Fall von Baku sogar abhängig macht. Die Macht des Stärkeren setzt sich durch. An welches Szenario erinnert das? Genau, an 2014, als Putin den Krieg gegen die Ukraine begann, indem er die Krim besetzte. Es gab damals viele Stimmen, die meinten, „ach, das müssen wir dem Putin zugestehen“, sonst gibt es einen „richtigen“ Krieg. Wohin uns diese Haltung gebracht hat, das zeigt sich derzeit in den Schützengräben und Minenfeldern der Ukraine.
Doch was nun? Einfach die Vertreibung von 120.000 Armenierinnen und Armenier akzeptieren? Nach dem Motto, Pech gehabt, „wrong place, wrong time?“ Europa muss sich fragen, was uns unsere Demokratie wert ist. Sind wir angewiesen auf Deals mit den Mördern und Diktatoren dieser Welt? Dann sollen wir uns nicht wundern, wenn diese Welt unsere wohlfeilen moralischen Vorhaltungen nur mit Verachtung aufnimmt. Die Armenier werden uns kaum mehr vertrauen.