Nordfriesischer Himmelsweg

Berührende Begegnungen beim Pilgern

Berührende Begegnungen beim Pilgern

Berührende Begegnungen beim Pilgern

Boris Pfau/shz.de
Husum
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Am Ziel der heutigen Etappe: Der Schobüller Steg. Foto: Boris Pfau

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In vier Etappen wandert Fotograf Boris Pfau von Klanxbüll nach St. Peter-Ording. Heute beschreibt er den Weg vom Amsinck-Haus bis Husum.

Der dritte Teil der Pilgertour auf dem „Nordfriesischen Himmelsweg“ - am wohl schönsten Wintertag dieses Jahres.

Man sagt, dass alles Glück dieser Welt vor unseren Augen liegt. Während ich mich am Amsinck-Haus im Sönke.Nissen-Koog zur dritten Etappe meines Nordfriesischen Himmelsweges aufmache, erahne ich noch gar nicht, was mich dort oben auf der schneebedeckten Deichkrone erwartet.

Okay, die Wettervorhersagen für meine 26 Kilometer lange Pilgertour nach Husum sind so sensationell, dass sie sogar die minus zehneinhalb Grad kalte Lufttemperatur vergessen lassen. Also: das wird heute ein ganz besonderer Tag.

Acht Höhenmeter weiter packt mich dann diese unbeschreibliche Leidenschaft für die Welt, die ich da draußen butendiek sehe. Schnell greife ich zu meiner Kamera und versuche wie ein ein Besessener, diesen einmaligen Augenblick doch nur irgendwie festzuhalten. Die energiereichen Strahlen der aufgehenden Sonne im Osten Nordfrieslands spiegeln sich im zartweißen Vorland der Hamburger Hallig wider.

Und dann ist da diese Stille. Ich stehe dort bei Eiseskälte mit der hyggelig wärmenden Morgensonne im Rücken. Ich atme leise, um das alles nicht zu stören und merke, es ist genau hier ein schönes Gefühl, einfach nur zu sein.

Eisbedeckter Hafen. Foto: Boris Pfau

Aufgetankt mit aller Gückseligkeit dieser berauschenden Ouvertüre meines Pilgertages laufe ich beschwingt gen Westen zum vier Kilometer entfernten Halligkrog. Aus der Unendlichkeit der vereisten Salzwiesen schallen mir plötzlich Kinderstimmen entgegen. Kaum habe ich mich umgedreht, steht auch schon Johannes Uhrig vor mir mit einem Bollerwagen an der Hand, in dem sich Amelie und Felix köstlich über ihren morgendlichen Ausflug amüsieren. Die drei werden mich von nun an bis zur Hauptwarft begleiten.

Bewegende Begegnung

Der Familienvater aus Karlsruhe ist seit ein paar Tagen zur Vater-Kind(er)-Kur in einer Klinik im nahen Bordelum und als ich ihn nach dem Grund seines Aufenthalts frage, höre ich die Geschichte einer Familientragödie, die mir eiskalt offenbart, dass Glück und Unglück eng beisammenwohnen. Nach langer schwerer Erkrankung ist die Mutter der dreijährigen Zwillinge im Oktober verstorben. Mit einer unglaublichen Gefasstheit erzählt Johannes, wie seine Frau in den Armen der beiden Geschwister eingeschlafen ist, nachdem er sie zuhause eine gefühlte Ewigkeit lang gepflegt hatte.

Am kleinen Halligstrand schauen wir den Kindern beim Klettern auf den weißen Schollen im vereisten Flutsaum zu. Johannes erzählt mir von seinem leidvollen Weg, den er in den letzten zwei Jahren gegangen ist und der am Ende trotz allem irgendwie einen Sinn machen muss. Sein Leben fühle sich an wie in einer Endlosschleife und beim Blick auf die schier unendliche Eiswüste der Nordsee vergleicht er sich mit einem Schiff ohne Steuer auf dem weiten Meer, das doch so dringend einen Anker braucht. Wie gerne würde ich diesen drei Menschen ein bisschen von dem großen Glücklichsein mitgeben, das ich noch vor einer Stunde im Übermaß verspürt habe.

Johannes mit den Kindern Amelie und Felix. Diese Begegnung bewegt unseren Pilgerer noch lange. Foto: Boris Pfau

Beim Abschied überlege ich lange, ob es angemessen ist, dem traurigen Trio tatsächlich Glück zu wünschen, und denke an mein Lieblingszitat von Albert Einstein: „Der Zufall ist Gottes Art, anonym zu bleiben.“ Ich nehme sozusagen den Wink an und aus voller Brust kommt schließlich ein hoffentlich aufmunterndes „Viel Glück!“ über meine kalten Lippen. Das herzliche Danke meiner wundervollen Begegnung wird für den Rest des Tages in den Pilgerohren klingen.

Unberührte Schneedecken

Zurück auf dem Außendeich der Reußenköge wandere ich nun alleine Richtung Süden. Die puristische Einfachheit meiner Umgebung ist geradezu surreal: weiß, weiß, weiß. Ich lasse mich treiben von dem Gefühl, jetzt meinen Weg endgültig selbst bestimmen zu dürfen. Meine Fußspuren in der unberührten Schneedecke werden sondergleichen, denn hier ist wirklich noch niemand vor mir gelaufen. Das rhythmische Knirschgeräusch meiner Schritte auf dem frostigen Untergrund verführt mich unmerklich in eine Trance des Verschmelzens mit dieser betörenden Natur. Alles ist so verzaubernd und ich bin mittendrin.

Wechselbad der Gefühle

Es sind wieder Kinderstimmen, die mich fast zwei Stunden später und neun Kilometer weiter in Lüttmoorsiel aufwecken. Die beliebte Badestelle ist heute Hotspot für gefühlt alle kleinen und großen nordfriesischen Rodelfans. Die, die keinen Schlitten haben, testen mutig die Tragfähigkeit des vereisten Wattenmeeres aus. Fast scheint es, als könne man über die gefrorene Nordsee bis zur Hallig Nordstrandischmoor laufen. Die Mittagssonne hat inzwischen den Schnee auf dem Deich ein wenig schmelzen lassen und so lugen zaghaft die Gleise der Lore und ein wenig das Grasgrün hervor. Die vielen glücklichen Menschen beim gemeinsamen Familienspaß im ach so seltenen nordfriesischen Schnee bringen mich in ein wahres Wechselbad der Gefühle, für das ich heute auf meinem Pilgerweg offenbar bestimmt bin. Beim Blick auf die Nordstrander Bucht in der Ferne, werde ich daran erinnert, dass ich noch nicht wenige Stunden auf dem Deich - dem Himmel so nah - Zeit haben werde, darüber zu sinnieren, ob das alles hier auf irgendeine Weise gerecht ist.

Was für ein Tag! Dieses Mal ist mein „Pilgern auf Nordfriesisch“ so anders als auf den beiden ersten Etappen. Einatmen, Ausatmen - wenn ich immer mal wieder innehalte, sind dies die einzigen Geräusche in dieser faszinierenden Symbiose aus dem Blau des Himmels über mir und dem Weiß der mich umgebenden Natur.

Die Schafe fehlen

Zudem fehlen meine blökenden vierbeinigen Begleiter, auch wenn hier und da schon einige wollige Exemplare mit ihren fröhlichen Lämmern auf den schneebedeckten Wiesen binnendeichs zu sehen sind. Selbst der so lärmende Luftverkehr ist äußerst bescheiden, nur selten zieht ein Vogelschwarm seine Bahnen.

Wenn man in dem, was man gerade tut, völlig aufgeht, ja ganz im Hier und Jetzt ist, dann nennt die Wissenschaft das den Flow. Wenn man in einem solchen Moment fühlt, dass alles stimmig ist, dann ist das ein echt starkes Glücksgefühl. Und wenn ich auf meinem Nordfriesischen Himmelsweg etwas gesucht habe, dann habe ich genau das heute und hier gefunden. Während ich die Nordstrander Halbinsel umrunde, spüre ich tatsächlich diesen magischen Flow - ein irres Gefühl! Der Weg ist lang, aber die Sonne streichelt meine Haut. Das glückliche warme Lächeln auf meinen Lippen ist für mich wie ein Wink des Schicksals.

St. Theresia

Unversehens finde ich mich wieder vor der roten Backsteinwand des bizarr anmutenden Doms St. Theresia auf dem Osterdeich im Ortsteil Süden. Die Nachmittagssonne scheint beharrlich auf das dort angebrachte himmelblaue Banner: „Der Mensch ist wie ein Schiff. Er braucht Ankerplätze, einen sicheren Hafen.“ Ich setze mich auf die einladende „Klönschnackbank“ vor dem reetgedeckten Pastorat und muss einmal mehr an Johannes denken. Was ist Zufall, was ist Schicksal? Vor der fast 350 Jahre alten Kirche der alt-katholischen Gemeinde liegt ein Anker, der vielleicht die Antwort gibt.

St. Theresia auf Nordstrand: „Der Mensch ist wie ein Schiff. Er braucht Ankerplätze, einen sicheren Hafen.“ Foto: Boris Pfau

Bis nach Schobüll habe ich noch einige Pilgerkilometer Zeit, mir die Bedeutung des Lebensankers durch den Kopf gehen zu lassen. Auf den vereisten Feuchtwiesen vor den Toren Husums haben sich seit einer Woche wahre Eislaufparadiese aufgetan und so ist der beschauliche Strand (ohne Deich) heute Abend sehr belebt. Selbst auf dem Steg hinaus in die tiefgefrorene Husumer Bucht haben sich viele Menschen versammelt, um diesen einmaligen winterlichen Sundowner nicht zu verpassen. Und doch herrscht eine demütige Stille.

Auf halben Weg an das Ende des Steges verharre ich, um voller Dankbarkeit für mich alleine zu sein - am Ende dieses ganz besonderen Tages. Wie sang noch jener in meine Jahre gekommene Düsseldorfer Alt-Punker Campino: „An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit. An Tagen wie diesen haben wir noch ewig Zeit.“ Erst später zu Hause werde ich vom TV-Meteorologen Meeno Schrader hören, das es so einen Tag - zumindest wettermäßig - zuletzt vor zehn Jahren gab.

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