Expertenanhörung

Bürger müssen der Corona-Politik noch Monate folgen

Bürger müssen der Corona-Politik noch Monate folgen

Bürger müssen der Corona-Politik noch Monate folgen

Kay Müller/shz.de
Kiel
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Sparte nicht mit Kritik an den Abgeordneten: Helmut Fickenscher, per Video im Plenarsaal zugeschaltet. Foto: Michael Ruff Ruffografie Itzehoe

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Der Landtag hört Wirtschaftswissenschaftler, Juristen, Mediziner und Fachleute an – deren Ratschläge widersprechen sich.

Die Kritik kommt klar. „Der Eindruck, den Sie hier übermitteln, ist nicht voll überzeugend“, sagt der Leiter des Instituts für Infektionsmedizin an der Uni Kiel, der den Abgeordneten im Landtag gestern per Video zugeschaltet ist. Denn die Mehrheit der 73 Parlamentarier sitzen im Plenum und lauschen den Experten. Viele Kontakte, viele Reden. Fickenscher und andere Wissenschaftler weisen aber daraufhin, wie wichtig es in Zeiten der Pandemie ist, Kontakte zu minimieren. „Das könnte man auch alles übers Internet machen“, sagt der Virologe.

Landtagspräsident Klaus Schlie (CDU) argumentiert sofort, dass der Plenarsaal ja gut gelüftet werde, Plexiglasscheiben die Abgeordneten voneinander trennen und alle Abgeordneten getestet sind. Doch so bleibt ein kleines Geschmäckle wenn die Experten darüber berichten, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die Menschen in Schleswig-Holstein haben – und wie die anwesenden Politiker der mit einem Stufenplan begegnen könnten. Den ersten Entwurf dazu, den Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) auf Bundesebene nicht durchsetzen konnte, haben auch einige der Experten mitentwickelt, die nun die Parlamentarier beraten.

Menschen misstrauen Krisenmanagement

Einer ist Krisenforscher Frank Roselieb. Der Kieler zitiert aus Studien, die belegen, dass eine Mehrheit der Befragten zwar die Lockdown-Maßnahmen unterstützt, aber das Krisenmanagement der Politik negativ beurteilen. „Das geht auf den ersten Blick nicht zusammen“, sagt Roselieb. Es zeige aber, dass die Politik noch klarer kommunizieren müssen. Denn um die Pandemie in den Griff zu bekommen, „müssen die Menschen der Politik noch viele Monate folgen“.

Auch Teile der Regierung verfolgen die Anhörung von Experten wie Alexandra Barth (l.): Bildungsministern Karin Prien und Justizminister Claus Christian Claussen (beide CDU). Foto: Michael Ruff Ruffografie Itzehoe

Die Experten erklären in fünf thematischen Runden, was sie in der Pandemie für sinnvoll halten. Und dabei legen sie den Fokus nicht nur auf medizinische und wirtschaftliche Aspekte – sondern auch auf soziale. Ganz nüchtern berichtet die Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Uniklinikum Schleswig-Holstein, Kamila Jauch-Chara, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen in der Corona-Pandemie ebenso gestiegen ist wie die Fälle von häuslicher Gewalt und die Zahl der Selbstmorde. Dazu gebe es immer mehr Menschen mit Übergewicht. Das sei bei rund 25 Prozent der Erwachsenen zu beobachten und bei rund zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen. Und: „Jedes dritte Kind zeigt psychische Probleme.“

Dazu steige die Zeit, die die Kinder mit elektronischen Medien verbringen. „Wir müssen die Kinder von den Handys und Bildschirmen wegziehen“, so Jauch-Chara. Sie fordert die Rückkehr der Schulklassen in den Präsenzunterricht. Denn aus anderen Epidemien wisse man, dass Kinder, die ein halbes Jahr aus der Schule heraus seien, massiv Schlafstörungen und Ängste entwickeln. Allerdings, so die gute Nachricht der Professorin, gehe das bei therapeutischer Behandlung in der Regel auch wieder zurück.

Öffnen Sie die Schulen!

Gunda Voigts, Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg

Für Gunda Voigts, Professorin für Grundlagen der Wissenschaft und Theorien Sozialer Arbeit sowie Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendarbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, ist die Konsequenz klar: „Öffnen Sie die Schulen“, ruft sie aus dem Home Office. Sie plädiert auch dafür, dass für Kinder und Jugendliche andere Kontaktbeschränkungen gelten sollten, so dass sie fünf Personen außerhalb des eigenen Haushaltes treffen können. Ihr sei klar, dass die Runde der Experten alles aus ihrer eigenen Perspektive beurteilen – „und Sie am Ende zu einem Kompromiss kommen müssen, den wir alle mittragen können“. Sie sei froh, dass sie das nicht leisten müsse, sagt Voigts – macht aber auch noch mal klar, wofür sie steht: Erwachsene könnten vielleicht den Lockdown noch ertragen, aber: „Kindheit und Jugend lassen sich nicht verschieben.“

Dass die Kinder und Jugendlichen auch eine wirtschaftliche Rolle spielen, macht dann der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr, deutlich. Durch einen Jahr unregelmäßigen Schulbesuch erleide jeder 1,5 Prozent Einkommensverlust – pro Jahr. Schon deshalb müsse der Fokus darauf liegen, die Schulen so schnell wie möglich weiter wieder zu öffnen. Felbermayr rechnet mit einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit, aber vor allem mit einer „Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit“. Der Forscher plädiert dafür, die Krise für eine Qualifizierung der Arbeitnehmer zu nutzen oder, wie er es nennt: „Wir müssen das Humankapital auffrischen.“ Wo das Geld dafür herkommen soll, sagt er nicht.

Hoffnung auf Erholung der Wirtschaft

Sagen kann er aber etwas über den Schaden, den der Norden durch die Pandemie erleidet: „Pro Monat entgeht Schleswig-Holstein eine halbe Milliarde an Wertschöpfung.“ Für Felbermayr, der wie Roselieb und Fickenscher am Perspektivplan der Landesregierung mitgearbeitet hat, liegt die Lösung an einer an auch an Inzidenzen gekoppelten Öffnungsstrategie: „Mit einem feiner gefassten Plan könnte sich ein Drittel der ökonomischen Schäden eindämmen lassen. Das macht schon einen Unterschied.“ Und er glaube auch daran, dass viele Menschen durch gespartes Geld die Wirtschaft wieder in Ganz bringen könnten – etwa in den Innenstädten: „Es gibt die Chance auf Erholung.“

Mit einem feiner gefassten Plan könnte sich ein Drittel der ökonomischen Schäden eindämmen lassen. Das macht schon einen Unterschied.

Gabriel Felbermayr, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft Kiel

Allein, es bleiben die Mahnungen der Virologen. Die haben gleich zu Anfang der Expertenberatung klar gemacht, dass sie nicht allzu viel von Lockerungen halten. Sie begrüßen den Stufenplan, plädieren aber auch für eine Verlängerung der Kontaktbeschränkungen auf höchstens zehn Leute, wie die Leitende Amtsärztin des Gesundheitsamtes in Neumünster und Vorsitzende des Landesverbandes Schleswig-Holstein der Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst, Alexandra Barth.

Warnt vor zu schnellen Öffnungen: Alexandra Barth. Foto: Michael Ruff Ruffografie Itzehoe

Am Ende kommen dann die Rechtsexperten zu Wort, die den Stufenplan beleuchten. „Der ist rechtlich nicht bindend, aber ein Hoffnungsschimmer“, sagt Kerstin von der Decken, Direktorin des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht. Der Plan sei aber mit geltendem Recht vereinbar – auch weil er verhältnismäßig sei. Die Juristin rät aber dazu, im Plan festzulegen, bei welchen Inzidenzen Abstandsregelungen, Maskenpflicht und Ausgangssperren greifen sollen. Und sie plädiert wie viele Experten vor ihr für einen bundeseinheitlichen Stufenplan – zumindest ab einer Inzidenz von 50.

Das sieht auch der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts so – und erklärt auch gleich, wer das machen soll. „Die wesentlichen Entscheidungen müssen vom Parlament getroffen werden“, sagt Achim Theis. Die Anforderungen – auch an den Landtag – steige. Wie sich der Landtag vor der nächsten Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin am 3. März verhalten soll, dazu macht er keinen konkreten Vorschlag. Nur so viel: „Es ruft nach einer Verständigung von Regierung und Parlament.“ Die hat es in der Vergangenheit schon häufig gegeben.

Weg zum Kompromiss wird nicht leicht

Klar wird am Ende, dass die Politik es mit dem weiteren Kurs in der Pandemie nicht allen Interessen Recht machen kann. Wie hat Gunda Voigts gesagt? „Ich möchte nicht Ihre Entscheidungen treffen.“ Doch dafür sind die Abgeordneten gewählt – und tagen im Plenarsaal.

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