Krieg in der Ukraine

Russe in Dänemark erschüttert von Putins Angriff

Russe in Dänemark erschüttert von Putins Angriff

Russe in Dänemark erschüttert von Putins Angriff

Dänemark
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Bombenangriff auf Kyjiw: Michail kann Bilder wie diese kaum ertragen. Foto: AFP/Ritzau Scanpix

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„Der Nordschleswiger“ hat mit einem in Dänemark ansässigen Mann aus Russland über den Krieg in der Ukraine gesprochen. Er kann die Gedanken daran fast nicht ertragen und geht seit dem 24. Februar kaum mehr aus dem Haus.

Am liebsten würde „Michail“ seine Verzweiflung und Wut über den Krieg in der Ukraine von den Dächern schreien. Doch es geht nicht, denn der Preis wäre zu hoch.

Auch wenn er sich fernab von Wladimir Putins Regime in Dänemark in Sicherheit befindet, kann der lange Arm des russischen Staatsapparates ihn über seine Verwandten dennoch erreichen.

Daher tritt er unter dem Mantel der Anonymität auf, Details über sein Leben, Beruf und Hintergrund müssen im Dunklen bleiben. Der Name „Michail“ ist frei erfunden.

„Du erinnerst dich: Ich sagte sofort ‚ja‘, als du um das Interview batest. Aber dann habe ich es am selben Tag bereut: Ich begann, an meine Angehörigen in Russland zu denken, die ich möglicherweise wegen des Interviews nie wieder sehen würde. Ich erzählte meinen Freunden von dem Interview, und alle waren sich eindeutig einig, ich solle aufpassen und am besten nicht teilnehmen“, sagt er, denn seine Befürchtung ist, er könne nie wieder in sein Heimatland einreisen.

 

Ich bin am Boden zerstört. Ich habe das Gefühl, meine Identität verloren zu haben.

„Michail“, in Dänemark ansässiger Russe

Glaubte nicht an einen Angriff

Das Interview findet schriftlich statt. Michail ist von den Ereignissen so erschüttert, dass er sich ein mündliches Interview nicht zutraut.

„Ich bin am Boden zerstört. Ich habe das Gefühl, meine Identität verloren zu haben, und dass ich mich von jetzt an schämen muss, Russe zu sein. Es ist so hart, dass ich seit Anfang des Krieges nicht außer Haus gewesen bin, um niemandem zu begegnen, der weiß, dass ich Russe bin. Plötzlich verstehe ich, wie es andersdenkenden Deutschen während des Zweiten Weltkrieges ergangen sein muss. Es ist fast nicht zu ertragen“, berichtet er.

Eine der Ursachen für seine Erschütterung ist, dass ein Angriff auf die Ukraine für ihn unvorstellbar war. Alleine den Gedanken daran empfand er als „absurd“.  Er hatte versucht, sich und seine Freundinnen und Freunde davon überzeugen, dass der Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze ausschließlich eine Drohgebärde gegenüber den USA war.

 „Was war ich doch für ein Idiot!“, beschreibt Michail seine Gedanken, als der Angriff auf die Ukraine am 24. Februar Realität wurde. 

Suche nach Erklärungen

Bis zu dem Datum war es für ihn fast, als würde Dänemark Norwegen angreifen.

„Meine ganze Welt stürzte ein. Ich kann immer noch kaum glauben, dass es geschehen ist.“

Seither sucht er im Netz und in internationalen Medien nach Erklärungen für das Agieren Putins. 

„Aber ich bin noch auf keine Erklärung gestoßen, die ich teilen kann. Meiner Ansicht nach muss man die Erklärung an andere Stelle suchen, und zwar in der Psychiatrie“, schreibt Michail. Doch „die Psychiater, deren Ansichten im Netz zu finden sind, weigern sich, ihn als psychisch krank zu betrachten. Ich tue das nicht. Größenwahn? Vielleicht“.

Beste Freunde, die 40 Jahre zueinander gehalten haben, beginnen sich zu hassen und treffen sich nicht mehr.

„Michail“, in Dänemark ansässiger Russe

Spaltungen quer durch die Familien

Michail ist gut vernetzt, pflegt enge Verbindungen zu Landsleuten im In- und Ausland. Die Informationen, die ihn aus Russland erreichen, erschüttern ihn.  

„Die Lage ist schrecklich. Die Menschen sind in zwei Lager gespalten: Die einen, die alles oder zumindest fast alles, was die offiziellen Medien berichten, glauben, und die anderen, die entweder imstande sind, die Informationen zu analysieren oder Zugang zu Facebook, Instagram und ähnliches haben. Diese beiden Lager sehen einander als Feinde, auch wenn beide häufig innerhalb einer Familie vertreten sind, in der Eltern/Kinder oder Ehemann/Ehefrau absolut verschiedene Überzeugungen haben. Beste Freunde, die 40 Jahre zueinander gehalten haben, beginnen sich zu hassen und treffen sich nicht mehr.“

Es gibt in Russland keine Meinungsfreiheit mehr.

„Michail“, in Dänemark ansässiger Russe

Zensur

Gleichzeitig wird die Zensur immer erdrückender. Medien, die dem Regime nicht genehm sind, wurden bereits geschlossen. Wer unabhängige Ansichten vertritt, wird als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt und muss dies dazuschreiben, wenn er oder sie etwas in den sozialen Medien veröffentlicht – ansonsten droht eine Strafe.  Das Wort „Krieg“ darf bekanntlich nicht benutzt werden, es gehe ausschließlich um eine „militärische Sonderoperation“.

Michail und seine Freunde fühlen sich an eines der düstersten Kapitel der Geschichte ihres Heimatlandes erinnert. 

„Wie ich, haben viele von ihnen in der Sowjetunion viel durchgemacht, und wie ich nehmen sie die neuen Restriktionen sehr ernst. Es gibt in Russland keine Meinungsfreiheit mehr“, meint Michail.

„Die jungen Menschen versuchen, ein wenig darüber zu lachen, wenn sie hören, dass sie bestimmte Worte ab jetzt nicht mehr benutzen dürfen. Sie sind Kinder der Perestroika und sind es gewohnt, ihre Meinung verhältnismäßig frei äußern zu können, zumindest privat. Nur wenige von ihnen – zum Beispiel Menschen, die an Demonstrationen teilgenommen haben – sind nach den Zusammenstößen mit der Polizei ein wenig vorsichtig“, berichtet er über die jungen Menschen in seinem Heimatland.

Die Entwicklungen in Russland bereiten ihm große Sorgen, denn „wir, die spätestens in den 70ern geboren sind, erinnern uns noch an die Zeit, als ein verkehrtes Wort einem die Freiheit, die Anstellung oder die Möglichkeit, zu reisen kosten konnte. Eine vergleichbare Zeit wird jetzt kommen. Ich habe Dokumente mit neuen ‚Empfehlungen‘ für Kulturschaffende gelesen: Sie müssen sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen (in erster Linie bezüglich des Krieges, aber auch, was die generelle Perspektive bezüglich der Entwicklung Russland betrifft). Die Tonlage in diesen Dokumenten ist recht bedrohlich“.

Was die weitere Entwicklung des Krieges anbelangt, ist Michail pessimistisch. Er will nicht ausschließen, dass Putin Atomwaffen einsetzen könnte.

Das Interview in voller Länge erscheint am Wochenende auf Nordschleswiger.dk.

Die Identität von „Michail“ ist dem „Nordschleswiger“ bekannt.

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