Vor 100 und vor 50 Jahren

Chronik: Dänemark statt Ruhrpott und Kunstakademie im Marschenhof

Chronik: Dänemark statt Ruhrpott und Kunstakademie im Marschenhof

Chronik: Dänemark statt Ruhrpott und Kunst im Marschenhof

Jürgen Ostwald
Jürgen Ostwald Freier Mitarbeiter
Nordschleswig
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Über die Zerstörungen durch den Vulkanausbruch auf Island wurde am 8. Februar 1973 berichtet.

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Was hat im Februar vor 100 und vor 50 Jahren für Schlagzeilen gesorgt? Jürgen Ostwald hat im Archiv die Zeitungen durchforstet und aufgelistet, was die Menschen 1923 und 1973 bewegt hat.

Foto: DN

Freitag, 1. Februar 1923

Wer hilft einem deutschen Kind aus der Not des Ruhrgebiets?

J. P. Nielsen, der so vielen deutschen Kindern aus Thüringen, Sachsen und den deutschen Großstädten zu einem Ferienaufenthalt in Dänemark verhalf, durch dessen Vermittlung auch Hunderte von Kindern in unsere Heimat kamen, schreibt mir:

„Wäre es nicht möglich, dass Sie in den deutschen Blättern in Nordschleswig mithelfende Menschen dazu auffordern könnten, ein deutsches Kind aus dem Ruhrgebiet 2-3 Monate in Pflege zu nehmen, bis die Verhältnisse sich etwas beruhigt haben? Ich bin selbst im Ruhrgebiet gewesen in diesen Tagen, und das Herz krampft sich mir im Leibe, wenn ich daran denke; wie die Kinder aussahen, reine Gespenster, magere Gesichter mit hervortretenden Backenknochen und großen altklugen Augen, die angesichts der Kriegsverwirrung leuchteten wie im Fieber.“

Ohne Zweifel werden viele von uns bereitwillig diese Gelegenheit benutzen, helfend einzuspringen. Es wird für viele von uns ein fast unerträglicher Gedanke sein, Zuschauer sein zu müssen, wie Gewalt und Not unser Volk immer mehr einkreist.

Reißt ein deutsches Kind heraus aus dem Dunkel des Ruhrgebiets in ein helles freundliches Heim und Du bist nicht Zuschauer, sondern Helfer!

Ein kurzer Entschluss ist erwünscht und dann sofort eine Karte geschrieben an mich, Tondern, Carstensstraße 5, oder die Zeitungsredaktion, die ich alle Anmeldungen an mich weiterzuleiten bitte. Am 5. Februar schon muss das dänische Komitee in Kopenhagen Bescheid wissen, um alles rechtzeitig veranlassen zu können.

In diesem Fall, wo schnell gehandelt werden muss, wird es nicht möglich sein, jeden Sonderwunsch, ob Junge oder Mädchen, Alter usw. zu berücksichtigen, doch wird es nach Möglichkeit geschehen.

 

J. Schmidt

Dieser Aufruf Johannes Schmidt-Wodders erschien in allen vier deutschsprachigen Tageszeitungen Nordschleswigs. Die Reaktion war enorm. In wenigen Wochen waren Hunderte Kinder untergebracht. Die Zusammenarbeit mit dem offenherzigen und überall beliebten Folketingabgeordneten und „Kindervater“ J. P. Nielsen fiel Schmidt-Wodder, der bekanntlich ebenfalls Folketingmann war, leicht – obwohl Nielsen ein in Dänemark allerorten bekannter Sozialdemokrat war. Über ihn neuerdings Frode Sørensen: Det røde hjørne. I. P. Nielsen 1873-1952. Sonderburg 2020.

  

Montag, 4. Februar 1923

Ein Teil des Loreleyfelsens kam dieser Tage, wie aus St. Goarshausen gemeldet wird, ins Rutschen, wobei zahlreiche Blöcke aus beträchtlicher Höhe herabstürzten. Die Rheinstraße war teilweise durch Blöcke im Gewicht bis zu 500 Zentner gesperrt. Die Gesteinsmassen sind noch nicht ganz zur Ruhe gekommen.

Die Loreley um 1900, so, wie sie noch Clemens Brentano und Heinrich Heine kannten. Seit 1923 ist sie etwas kleiner. Foto: Library of Congress, Washington

Freitag, 9. Februar 1923

Die Lebenserinnerungen Rabindranath Tagores erscheinen soeben im Kurt Wolff Verlag München. Der Dichter erzählt in ihnen die Geschichte seines Lebens bis etwa zum 24. Lebensjahre. Mit Frische und dem ihm eigenen Humor gibt er Erinnerungsbilder, kleine künstlerisch gesehene und schöpferisch gestaltete Schilderungen seiner Werdejahre. Gleichzeitung erwächst aus diesen Erzählungen eine Anschauung des heutigen Indien und der eigentümlichen Entwicklung, die es in den letzten Jahrzehnten genommen hat, wie wir sie nirgends sonst so unmittelbar und lebendig gewinnen.

Tagore (Kalkutta 1861 – 1941 Kalkutta) war einer der bedeutendsten indischen Philosophen und Dichter des 20. Jahrhunderts – er erhielt 1913 den Nobelpreis für Literatur – und hat mit seinen philosophisch-pädagogischen Schriften und seiner Lyrik stark auf das deutsche Geistesleben vor und nach dem Ersten Weltkrieg eingewirkt. Seine Bücher erreichten besonders in den Zwanzigerjahren sehr hohe Auflagen, obwohl sich kein großer Name als Übersetzer seiner Werke in Deutschland fand. Rainer Maria Rilke, von André Gide mit Tagore schon vor dem Nobelpreis vertraut gemacht, lehnte ab. Andernorts war das anders. In Russland übersetzte Boris Pasternak, in Spanien Juan Ramón Jiménez, in Frankreich André Gide und in der angelsächsischen Welt William Butler Yeats. Die Lebenserinnerungen Tagores, die 1923 erschienen waren und die er mit 50 Jahren geschrieben hatte, sind vor einigen Jahren abermals aufgelegt worden und sind heute noch im deutschen Buchhandel greifbar.

Der Kunstkalender des Jahres 1923 war Dithmarschen gewidmet. Wie stets wurde er von Johann Holtz illustriert. Foto: Kunstkalender

Montag, 12. Februar 1923

Vom Büchertisch

In der bekannt ausgezeichneten Aufmachung ist trotz der schweren Not im deutschen Buchgewerbe der allbeliebte „Schleswig-Holsteinische Kunstkalender“ wieder erschienen. Er ist in diesem Jahre der Landschaft Dithmarschen gewidmet. (…) Besondere Hervorhebung verdienen die Bildertafeln und das wieder von der Meisterhand des nordschleswigschen Künstlers Johann Holtz farbig gezeichnete Kalendarium.

Der Kunstkalender erschien erstmals 1912 mit einem Vorgänger („Schleswig-Holsteinisches Jahrbuch“) und wurde damals bereits von Heinrich Sauermann herausgegeben. Heinrich Sauermann war seit 1906 Direktor des Flensburger Museums, das bis zur Abstimmung das Kulturhistorische Museum für den ganzen Schleswiger Landesteil war. 1920 wurde er Leiter des Thaulow-Museums, das vor 1918 wiederum das Museum für den Landesteil Holstein der Provinz war. Sein jahrelanger Illustrator Johann Holtz, einer der wichtigsten Buchkünstler des norddeutschen Jugendstils, wurde 1875 in Tondern geboren und starb 1944 in Flensburg. Der Kunstkalender von 1920 war Nordschleswig gewidmet.

Ortsansichten Dithmarschens von der Hand Johann Holtz’ zierten das Kalendarium des Kunstkalenders von 1923. Foto: Kunstkalender

Montag, 12. Februar 1923

Die Beilagen „Unsere Heimat“ und „Schleswig-Holsteinische Jugend“ sind leider der Papierteuerung zum Opfer gefallen. Die an der Herstellung der Beilagen beteiligten Zeitungen sind nicht in der Lage, die erheblichen Kosten aufzubringen, die durch die Verdoppelung der Papierpreise entstehen.

Die erste eingestellte Beilage erschien seit 1914. Sie erschien auch selbstständig als „Heimatblätter für den Kreis Sonderburg“. 1929 – die „Sonderburger Zeitung“ war bereits mit den anderen deutschsprachigen Tageszeitungen zusammengelegt – erschien nochmals ein weiterer Jahrgang. Es blieb bei dem Versuch. Die zweite Beilage erlebte ebenfalls Wiederbelebungsversuche, die aber ebenfalls nicht langlebig waren, wie etwa das Kinderblatt „Mein Heimatland“ des „Apenrader Tageblatts“.

 

Donnerstag, 15. Februar 1923

Der Automobilverkehr nach Flensburg erfährt eine Beschränkung durch eine Anordnung des Regierungspräsidenten in Schleswig, wonach dänische Kraftwagen die Grenze bei Krusau nur überschreiten dürfen, wenn sie von den Insassen auch für die Rückfahrt gemietet worden sind. Diese Bestimmung gilt jedoch nicht für die großen Linienkraftwagen, welche eine Konzession für den Verkehr erworben haben.

Eine Begründung dieser sonderbaren Anordnung wurde nicht mitgeliefert. Und zudem: Noch nie ist es einem Kraftwagen in Krusau gelungen, die Grenze zu überschreiten.                                            

 

Freitag, 16. Februar 1923

In der „Harmonie“ wurde am Mittwochabend das Stiftungsfest des Jugendbundes abgehalten. Dazu hatten sich die Mitglieder und ihre Angehörigen in stattlicher Zahl eingefunden; mehr als 120 Personen waren erschienen. Landmann Schmidt jr. aus Oxbüll eröffnete die Feier mit Begrüßungsworten. Als Gast war Pastor Engelhardt aus Elgersburg bei Weimar erschienen. In humorvoller Weise erzählte er von seiner Tätigkeit als deutscher Auslandspastor in Honolulu (Sandwich-Inseln), und sang im Anschluss daran ernste und heitere Lieder zur Laute, darunter auch das schöne Lied „Heimat“ von unserem Landsmann Wihelm Lobsien. Mitglieder des Jugendbundes führten das Lustspiel „Der grade Weg ist der beste“ hübsch auf. Alle Darbietungen fanden großen Beifall. Darauf versammelte man sich beim Kaffeetisch, der durch manche Reden und gemeinsam gesungene Lieder gewürzt wurde. U. a. hielt Herr Dr. Burmeister eine ergreifende Ansprache über die Besetzung des Ruhrgebietes und Herr Christensen-Apenrade sprach über das Deutschtum in Nordschleswig. Er als Mitbegründer des Jugendbundes freute sich über dessen Fortbestehen; es werde ihm eine Freude sein, auch weiterhin im Jugendbund mitzuwirken. Die Mitglieder möchten auch in schwerer Zeit fest zusammenhalten. Ein Tanzkränzchen bildete den Schluss der Feier.

 

Sonnabend, 17. Februar 1923

Der Jugendbund in Osterhoist feierte am verflossenen Sonntag die Fahnenweihe, zu der die Jugend und viele geladene Gäste erschienen. Die Fahne zeigt die schleswig-holsteinischen Farben und den markigen Spruch „Einig und stark, deutsch bis ins Mark“.

 
Foto: DN

Donnerstag, 8. Februar 1973

Der Lavastrom

Reykjavik. Eine gewaltige Wasserdampfwolke stand am Mittwoch über der Hafenstadt der isländischen Insel Heimaey, während ein 200 Meter breiter glühender Lavastrom aus dem Vulkan „Helgafjell“ unaufhaltsam in die anbrodelnde See strömte. Die Dampfwolke war so dicht, dass Schiffe sie nur mit Radar passieren konnten. Der Lavastrom hat unterdessen die Strom- und Wasserversorgung der Insel unterbrochen. Nach amtlicher Auskunft ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Lavamassen die Einfahrt des Hafens vollständig verschließen, der einer der bedeutendsten Fischereihäfen Islands ist.

Die isländischen Behörden planen inzwischen die Evakuierung der 300 Mann starken Rettungsmannschaften mit Flugzeugen. Ein isländischer Rundfunkreporter berichtete gestern, die nach Ausbruch des Vulkans vor 15 Tagen evakuierten 5.000 Inselbewohner begrüben allmählich die Hoffnung, jemals wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Heimaey ist von Millionen Tonnen von Asche und Lava überzogen.

Über den Vulkanausbruch berichteten wir bereits in unserer vorigen Chronik. Diese Naturkatastrophe des Jahres 1973 erinnert an ein anderes Unglück, das die Insel einstmals traf. Es handelt sich um die einzige größere kriegerische Auseinandersetzung des Königreichs Dänemark mit dem Osmanischen Reich. Es war im Jahre 1627, als eine Flotte nordafrikanischer Piraten die südlich Island vorgelagerten Inseln erreichte und die Häuser wie die Kirche von Heimaey niederbrannten und zahlreiche Einwohner töteten. Über 300 Menschen wurden verschleppt und auf den Sklavenmärkten der Küstenorte des heutigen Marokko und Algerien verkauft. Menschenhandel und Sklaverei und die damit verbundenen Lösegeldforderungen waren die Einnahmequellen der Piraterie noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts.

 

Sonnabend, 10. Februar 1973

Kommissar Maigret gestorben

Kommissar Maigret, der wohl bekannteste Kriminalist der Weltliteratur, wird nie mehr einen Verbrecher jagen!  Sein Schöpfer Georges Simenon hat kurz vor seinem 70. Geburtstag am Dienstag (13. Februar) angekündigt, dass er keine Bücher mehr schreiben will. In der Lausanner Zeitung „24 Heures“ erklärte der Schriftsteller seinen „Rücktritt“ und versicherte, er werde nicht mehr schreiben und keine Interviews mehr geben. Er wolle in Frieden leben.

Der gebürtige Belgier war bisher ein Autor der Superlative: Er galt als der produktivste, schnellste und erfolgreichste Schriftsteller des Jahrhunderts. Seine zum Teil in wenigen Tagen verfassten Erzählungen, Romane und Maigret-Kriminalgeschichten erscheinen in 42 Sprachen – bei einer Auflage von über 50 Millionen. Seinen Erstling schrieb Simenon, ehemaliger Jesuitenzögling, Zeitungsredakteur und Sekretär eines Politikers, mit 21 Jahren. Die erste Maigret-Serie brachte der von Andre Gide hochgerühmte Autor 1930 heraus.

Georges Simenon (1903-1989) wird sein Versprechen zu den Maigret-Romanen halten. 1972 war der letzte Maigret erschienen, „Maigret und Monsieur Charles“ (deutsch 1975). Anderes wird er nicht halten. Die sogenannten Non-Maigrets wird Simenon weiter schreiben, auch Lebenserinnerungen, ebenso wird er weiter Interviews geben. Wir haben das hingenommen. Aber die 75 Maigret-Romane und die 28 Maigret-Erzählungen reichen uns auch. Seit einiger Zeit sind die Rechte der Maigret-Romane vom Diogenes-Verlag an den Kampa-Verlag übergegangen. Das Feuilleton in der deutschen wie dänischen Presse berichtete darüber. Seither erscheinen Zug um Zug Neu-Übersetzungen der Maigret-Bände. Ob der neue Verlag allerdings auch den Plan hat, die von Paul Celan übersetzten Maigret-Bände neu übersetzen zu lassen, ist nicht bekannt.

 

Dienstag, 13. Februar 1973

Marschenhof der Familie Kier soll eine Kunstakademie werden

Der kleine Marschenflecken Hoyer soll nach Vorstellungen der Kommune Hoyer und der Amtskommune ein Kunstzentrum erhalten, das den Namen „Sønderjyllands Kunstakademi“ tragen soll. Vertreter der Kommune und der Ökonomieausschuss des Amtes mit Amtsbürgermeister Erik Jessen an der Spitze beschlossen gestern Vormittag den kauf des Marschenhofes, der sich im Besitz der Familie Kier am südlichen Rand der Ortschaft befindet.

Nach aufwendigen Renovierungs-Arbeiten nahm die Einrichtung ihre Arbeit auf und vollführt sie in dem stattlichen Anwesen bis auf den heutigen Tag. Der Hof wurde im Spätmittelalter um 1400 erstmals erwähnt. Nach der Reformation gehörte er dem Bistum Ripen (Ribe), dann wurde er königliches Krongut, schließlich, im 17. Jahrhundert ging er in den Besitz von Hans Schack über, dem Militär und Erbauer der Schackenborg. In Kierschen Besitz kam der Hof wenige Jahre vor Ausbruch der verheerenden großen Feuersbrunst Hoyers 1756, die zum heute erhaltenen Neubau mit den Nebengebäuden führte. 1759 liest man an der Ost- und Westseite des Hofes, der nun bis 1939 voll bewirtschaftet wurde. Zuletzt bewohnte Mariechen Kier, Ehefrau von Hans Christian Kier, der bereits plötzlich 1971 verstorben war, mit ihren Kindern Dieter, Hans-Christian und Ulla den Hof. Ältere Leserinnen und Leser dieser Chronik werden sich an Hans  Christian Kier erinnern: Von 1959 bis zu seinem Tod 1971 war er Schulbusfahrer beim Deutschen Schul- und Sprachverein für Nordschleswig und fuhr unter anderem die Schülerinnen und Schüler der Westküste zum Apenrader Gymnasium.

„Kulturcentret Kiers Gaard“ im heutigen Zustand Foto: Kiers Gård
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