Corona auf Sylt

„Wir senden Liebessignale“: Sylter im Lockdown zwischen Glücksgefühl und Angst

„Wir senden Liebessignale“: Sylter im Lockdown zwischen Glücksgefühl und Angst

Sylter im Lockdown zwischen Glücksgefühl und Angst

SHZ
Sylt
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„Am Hochhaus am Strand wird nachts ein riesiges Herz illuminiert.“ Diesen einzigartigen Moment hat Marcus Riel im Foto festgehalten. Foto: Marcus Riel / SHZ

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In ihrem neuen Buch schildert die Sylter Autorin Susanne Matthiessen im ersten Kapitel die einzigartige Zeit des Lockdowns, die die Insel in eine faszinierende und zugleich beängstigende Stille tauchte. Lesen Sie selbst!

Am 10. März erscheint das neue, zweite Buch der Sylter Autorin Susanne Matthiessen mit dem Titel „Diese Liebe wird nie zu Ende gehn“. shz.de veröffentlicht einige Passagen aus dem Buch vorab. Im ersten Kapitel schildert Susanne Matthiessen die einzigartige Zeit des Lockdowns, die die Insel in eine faszinierende und zugleich beängstigende Stille tauchte. Lesen Sie selbst:

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„ ... Dass es diesmal um alles gehen wird, hat sich schon früh angedeutet. Gleich am Anfang der Pandemie, als Sylt Mitte März 2020 in den ersten Shutdown gehen musste und komplett abgeriegelt war. Nur, wer seinen Erstwohnsitz auf der Insel hatte, durfte noch rauf, alle anderen mussten auf dem Festland bleiben. In unserer Heimatzeitung, der Sylter Rundschau, konnte man damals nachlesen, was sich die fanatischen Syltfans haben einfallen lassen, um das Betretungsverbot zu umgehen und irgendwie doch auf die Insel zu gelangen. Als Handwerker verkleidet, mit dem Motorboot übers Wattenmeer, zu Fuß über den Hindenburgdamm, im Laderaum von Lieferfahrzeugen und auch mit gefälschten Ausweisen. Einigen ist es gelungen, und sie sind durchs Netz geschlüpft, um die Insel Sylt in ihrer Abgeschiedenheit ganz pur zu erleben, ein epochales Erlebnis, das eigentlich nur den Insulanern selbst vorbehalten war. Eine Teestunde mit dem Dalai Lama hätte kaum exklusiver sein können. Nur hat das von uns kaum einer überrissen.


Ich weiß noch, wie der ständige Zustrom von Menschen und Autos über den Hindenburgdamm plötzlich versiegte und es ganz einsam wurde und wir plötzlich allein waren mit uns und unserer Insel.

Die Bundesregierung mahnte, die Leute sollten zu Hause bleiben. Noch war es als Bitte formuliert, nicht als Verbot. „Zu Hause bleiben können wir auch auf Sylt“, sagten sich viele und warfen im Fluchtreflex vor der tödlichen Bedrohung Kind und Kegel in ihre Autos. Ab an die Nordsee. Raus an die Luft. Es folgte ein Ansturm, den man im Februar so auf Sylt noch nie gesehen hatte. Aus der ganzen Republik flüchteten Menschen in den Norden, die Staus an der Autoverladung in Niebüll sprengten jede Vorstellungskraft. Jetzt bekamen wir es mit der Angst zu tun. Als mir klar wurde, dass das alles jetzt wirklich passiert, dass das kein Film war, dass es so was wie eine bitterernste innerdeutsche Fluchtwelle gab und dass Sylt jetzt dasselbe war wie „GER-MA-NY!“ für große Teile der Welt, klappte ich zusammen und verlor das Bewusstsein. Meine Mutter sagte: „Hoppla!“ und klatschte mir ein nasses Handtuch an den Kopf. Es war mir peinlich. So ist es wohl, wenn man zum ersten Mal echte Angst hat. Vor dem Tod. Vor einer Invasion. Vor dem Kontrollverlust. Meine Mutter kannte dieses Gefühl schon. Von ganz früher. Als sie mit ihrer liebsten Puppe im Luftschutzkeller saß. Und sagte nur: „Verrückte Welt.“

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Kurz darauf beschloss die Landesregierung für die Inseln ein Betretungsverbot und gab den Geflüchteten drei Tage Zeit, Sylt zu verlassen. Danach wurde es still. Sehr still. Eben noch der große Trubel, dann gespenstische Ruhe. Wir tasten uns vor. Es ist eine Welt, die wir nicht kennen. Science-Fiction. Leere Straßen. Leere Supermärkte. Leere Strände. Und Tausende leere Häuser und Wohnungen. Kaum dass überhaupt ein Mensch zu sehen ist. In manchen Orten wie Kampen oder Rantum scheint überhaupt niemand mehr zu wohnen. Seltsam. Alles wird langsamer und langsamer. Wir richten uns ein in einem Leben, das wir nicht kennen. Anfänglich ist da noch diese Beklemmung, auf einer Art Gefängnisinsel eingesperrt zu sein, und das Furcht einflößende Gefühl, mit jedem Tag dem wirtschaftlichen Ruin einen Schritt näher zu kommen. Beides wird nach und nach verdrängt von einem Glücksgefühl, das tief greifend ist und lang anhaltend. Die verlassene Insel ist ein seltenes Geschenk. Nur dass es das Geschenk im November 2020 mit dem zweiten Lockdown und dem Beherbergungsverbot gleich noch einmal gab.

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In der Einsamkeit fühlen sich die Stürme anders an. Härter. Direkter. Man lauscht auf den Wind und hört Lieder. Man studiert Wolkenformationen, möchte innerlich „Klick“ machen wie bei einem Handyfoto, um das Überwältigende in sich einzuschließen. Ich hätte nichts dagegen, wenn es immer so bliebe. Und da bin ich nicht die einzige. Ob wir eine Lehre daraus ziehen werden und welche, ist ungewiss. Silvester, normalerweise Hochsaison, verbringen die Sylter in aller Stille. Nur mit dem Geld wird es langsam sehr, sehr knapp. Geschäftsleute schreiben Brandbriefe an die Landesregierung nach Kiel, dass es nicht so weitergehen kann, dass die Insel Gäste braucht, um wirtschaftlich zu überleben. Pandemie hin oder her. Die Rückmeldungen sind entmutigend. Die Infektionszahlen steigen bundesweit. Wir stecken mitten in der dritten Welle. In den Monaten dieses ersten Coronawinters hat sich eine Art Dorfleben etabliert, so wie es früher mal eins gegeben haben muss. Neuigkeiten erfährt man vermehrt per Mundpropaganda beim Einkaufen und weniger aus der Zeitung. Aber was sind schon Neuigkeiten? Es passiert ja nichts. Es fühlt sich an, als sei unser Mutterschiff ohne uns zur Erde zurückgeflogen. Als hätte man uns hier vergessen. Oder auf einer Insel mitten in den unendlichen Weiten des Ozeans ausgesetzt.

Zuerst senden wir noch Lichtzeichen, stehen mit Taschenlampen am Wasser und machen auf uns aufmerksam. Die Gastronomen stellen Tische und Stühle an den Strand, dekorieren alles wie in ihrem Restaurant. Machen Fotos, schicken sie in die Welt hinaus. Am Hochhaus am Strand wird nachts ein riesiges Herz illuminiert. Wir senden Liebessignale übers Meer an unsere fehlenden Gäste. Irgendwann hören wir damit auf. Und fangen an, die Insel wieder in Besitz zu nehmen. Sie zu erkunden. Sie zu erleben. Sie zu genießen. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, ich kenne jeden Halm und jedes Sandkorn, doch das ist ein Trugschluss. Diese Insel ist für mich neu und unbekannt...".

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Hannah Dobiaschowski
Hannah Dobiaschowski Projekte / Marketing
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