Gesellschaft

Wenn der Mittelfinger zum Berufsalltag von Schleswig-Holsteinern gehört

Wenn der Mittelfinger zum Berufsalltag von Schleswig-Holsteinern gehört

Wenn der Mittelfinger zum Berufsalltag in SH gehört

Julia Weilnböck/shz.de
Husum
Zuletzt aktualisiert um:
Benjamin Grimm fühlt sich mit dem Corona-Spuckschutz in seinem Autokraft-Bus wesentlich sicherer. Trotzdem: „Im Notfall habe ich kaum Fluchtwege.“ Foto: Julia Weilnböck/shz.de

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Für Busfahrer, Rettungskräfte und Feuerwehrleute gehören Beleidigungen, Drohungen und Angriffe inzwischen zum normalen Berufsalltag, auch in Schleswig-Holstein. Im Husumer Speicher berichteten Betroffene – und diskutierten Gründe und Lösungen.

Sie fahren Menschen zur Arbeit, sorgen für Ordnung oder sind im Notfall zur Stelle. Zugleich erleben Rettungskräfte, Busfahrer, Polizisten und Jobcenter-Mitarbeiter besonders oft Gewalt und Beleidigungen während ihrer Schichten – oft von den Personen, die sie versorgen, transportieren oder betreuen.

Bei einer Veranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Bezirk Nord berichteten Betroffene von ihren Erlebnissen im Einsatz. Gemeinsam mit lokalen Vertretern aus Politik und Verwaltung diskutierten sie im Husumer Speicher, warum Spucken, Drohungen und körperliche Angriffe inzwischen zum alltäglichen Wahnsinn gehören.

Morddrohungen gegen Flensburger Rettungskräfte

„Ich schieß’ dich tot!“ Solche Drohungen mussten sich Flensburger Rettungskräfte anhören, nachdem sie einem Passanten bei einem Einsatz Feuer für dessen Zigarette verwehrt hatte. „Diese Extremsituationen nehmen zu – in Qualität und Quantität“, fügt der Feuerwehrmann Kai Röpke hinzu. „Und es sind nicht nur bestimmte Gruppen. Auch der wohlsituierte SUV-Fahrer, der sein Kind zur Kita bringt, pöbelt uns inzwischen an, wenn der Einsatzwagen im Weg steht.“

Regelmäßig angeschrien oder bedroht zu werden, macht krank

Ganz ähnlich geht es Benjamin Grimm. Der Busfahrer ist im Husumer Raum für die Autokraft unterwegs, kennt die Probleme seiner Kollegen aber auch als Betriebsrat für den Bereich Nordfriesland. „Der Mittelfinger gehört für uns zum Alltag“, weiß er. In Nordfriesland sei es noch nicht so schlimm wie in den Großstädten Hamburg oder Berlin, doch auch er sei schon mit einem Messer bedroht worden. „Der Spuckschutz, den wir seit Corona haben, schützt zumindest auch vor diesen Angriffen.“

Diese einzelnen Erfahrungen sind Teil eines beunruhigenden Trends, den der DGB durch mehrere Umfragen mit Daten hinterlegt hat. Regionsgeschäftsführerin des DGB SH Nordwest, Gabriele Wegner, weiß, wie groß das Problem bereits ist: „67 Prozent der Befragten wurden während ihrer Arbeit bereits beleidigt, bedroht, angespuckt oder angegriffen.“ Beleidigungen seien mit 58 Prozent besonders häufig, doch auch Anschreien und Androhungen von Gewalt erlebten viele Beschäftigte. Und dieser Stress mache krank.

Ist eine „Verrohung der Sitten“ schuld?

Doch was ist der Grund für die vielen Beleidigungen und Angriffe, deren Extremfälle auch mehr und mehr in den Schlagzeilen auftauchen? Es gäbe eine „Verrohung der Sitten“, einen „Werteverfall“, eine allgemeine „Entsolidarisierung“, so diagnostizieren Redner und Publikum einvernehmlich. Wie dieser Trend umzudrehen ist, darüber herrscht allerdings keine Einigkeit.

Braucht es mehr Kontrolleure, mehr Lehrer, Panikknöpfe, Panzerglas, ein Sozialtraining in der Schule? Sind die sozialen Medien schuld, der Frust über den Staat oder der Umstand, dass der überwiegende Teil aller Pöbeleien und Angriffe ohne Folgen bleibt? „Ich habe keine Lösung“, gibt auch Husums Bürgermeister Uwe Schmitz in der Diskussion zu.

Den Betroffenen und dem DGB bleibt nur, auf das Problem aufmerksam zu machen und sich für kurzfristige Verbesserungen einzusetzen. Doch langfristig wünscht sich Feuerwehrmann Kai Röpke: „Es wäre schön, wenn wir alle wieder den Konsens finden, auf Gewalt im Umgang miteinander zu verzichten.“

Mehr lesen