100 Jahre Egon Bahr

Weltpolitik an der Flensburger Förde – Erinnerungen an den „Minister für besondere Aufgaben“

Erinnerungen an den „Minister für besondere Aufgaben“

Erinnerungen an den „Minister für besondere Aufgaben“

SHZ
Steinbergkirche
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„Putins Machthunger: Wie weit wird Moskau gehen?“ Das war schon zu Lebzeiten von Egon Bahr Thema von Fernseh-Talkshows, wie hier bei „Maybritt Illner“ im November 2014. Foto: Müller-Stauffenberg/Imago Images/shz.de

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Der Ukraine-Konflikt ruft Erinnerungen an die Ostpolitik von Egon Bahr wach – auch in Neukirchen bei Flensburg, wo er als Bundestagsabgeordneter wohnte. Am 18. März wäre der SPD-Politiker 100 Jahre alt geworden.

Es ist ein Abend kurz nach Weihnachten 1979. Als der Zug aus Hamburg im Flensburger Bahnhof eintrifft, steht auf dem Bahnsteig, den viele andere Reisende vermutlich sofort erkennen: Es ist Egon Bahr. Ehemaliger Bundesminister, Vertrauter von Ex-Kanzler Willy Brandt und noch immer der wichtigste Berater von Bundeskanzler Helmut Schmidt, wenn es um die Beziehungen zur Sowjetunion geht.

Was die Reisenden nicht wissen, und was auch Egon Bahr noch nicht weiß: Wenige Stunden zuvor sind die sowjetischen Truppen in Afghanistan einmarschiert. Die Ereignisse dieses Tages sollten die Weltpolitik noch lange in Atem halten.

Egon Bahr (1922-2015) beschreibt diesen Abend in seinen 1996 erschienenen Erinnerungen mit dem Titel „Zu meiner Zeit“. Zwischen vielen Szenen in Bonn, Ost-Berlin, Moskau und Washington ist dies eine der wenigen, die in Flensburg spielen. Ganz in der Nähe, in Neukirchen an der Flensburger Außenförde, hatte Egon Bahr zu seiner Zeit als aktiver Politiker ein Reetdachhaus, in dem er seine wenigen freien Tage verbrachte und von dem aus er seinen Bundestagswahlkreis Flensburg-Schleswig betreute.

Am 18. März wäre Egon Bahr 100 Jahre alt geworden.

Fällt in diesen Tagen sein Name in den Nachrichten, dann meist in Verbindung mit der Ukraine-Krise. Manchen gilt er als Urvater der Russland-Freunde in der SPD. Ringt die Partei um ihren Kurs gegenüber Wladimir Putin, ist bisweilen die Rede von einer „Egon-Bahr-Erbengemeinschaft“.

Bahr prägte im Kalten Krieg den Begriff vom „Wandel durch Annäherung“, den er schon 1963, damals noch als Pressesprecher von Willy Brandt als Regierendem Bürgermeister von West-Berlin prägte.

Nach Berlin kehrte Egon Bahr auch nach seiner Zeit als aktiver Politiker zurück. An der Flensburger Förde hat er kaum Spuren hinterlassen. Das große, einsam gelegene Haus hat er schon viele Jahre vor seinem Tod verkauft. Heute steht es leer.

Minister für besondere Aufgaben

Zu den Menschen, die sich noch gut an ihn erinnern, gehört Freia Meißner, heute 81 Jahre alt. Sie war zu Zeiten von Egon Bahr die einzige SPD-Gemeindevertreterin in der CDU-geprägten Gemeinde Quern, zu der Neuklrchen damals gehörte. Später wurde sie Bürgermeisterin.

„Wir bekamen eines Tages einen Anruf aus dem Büro von Egon – Herr Bahr würde uns gern kennen lernen“, erinnert sie sich. Man traf sich im Dorfkrug. Es war in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, die Zeit von Willy Brandts Ostpolitik. Egon Bahr war „Minister für besondere Aufgaben“ im Bundeskanzleramt. Die besonderen Aufgaben – die bestanden vor allem darin, die Kontakte zu den kommunistischen Führern in Ost-Berlin und Moskau zu pflegen und die Idee vom Wandel durch Annäherung in praktische Politik umzusetzen.

„Egon konnte sehr lebendig von seiner Arbeit erzählen“, sagt Freia Meißner. „Er benutzte keine Fremdwörter. Er redete so, dass man alles verstand.“ Er sei zwar nur alle paar Wochen nach Neukirchen gekommen. „Aber wenn er da war, dann war er überhaupt nicht abgehoben.“ Staatsgeheimnisse habe er zwar nicht verraten, „aber er hat viele Dinge erzählt, die wir sonst nie erfahren hätten“.

Dass Egon Bahr an die Flensburger Förde gezogen war, das war offenbar auf den guten Draht zurückzuführen, den Willy Brandt zum damaligen schleswig-holsteinischen SPD-Landesvorsitzenden Jochen Steffen hatte. Brandt wollte seinem Vertrauten einen Sitz im Bundestag verschaffen. Für West-Berliner gab es zur Zeit der deutschen Teilung keine vollwertigen Bundestags-Mandate.

SPD Nordfriesland wollte Egon Bahr nicht

Brandt selbst kandidierte auf der Landesliste Nordrhein-Westfalens. In Schleswig-Holstein setzte Jochen Steffen vor der Bundestagswahl 1972 Bahr als Spitzenkandidaten durch. „Solch einen Eierkopf können wir brauchen“, soll Steffen seinem Landesvorstand gesagt haben, erzählte Egon Bahr später.

Einen Wahlkreis für den Polit-Promi aus der Hauptstadt zu finden, war trotzdem nicht ganz einfach. Zuerst soll Steffen in Nordfriesland angefragt haben. Die dortigen Genossen wollten aber lieber einen einheimischen Kandidaten. So wurde es Flensburg-Schleswig.

Als Bundestagsabgeordneter hatte er nun eine Basis, auf der er seine Aufgabe als Kontaktmann nach Moskau auch nach seiner Zeit als Minister erfüllen konnte. So auch an jenem Abend nach Weihnachten 1979. Der Mann, den Egon Bahr am Flensburger Bahnhof abholte, war Waleri Lednew. Offiziell ein russischer Journalist, in Wahrheit ein Mittelsmann aus dem direkten Umfeld von Kremlchef Leonid Breschnew. Lednew war nach Flensburg gekommen, um die Bundesregierung über den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan zu informieren. Abhörsicher im direkten Gespräch.

Ganz allein waren sie freilich nicht. „Seine Bodyguards waren immer dabei“, erinnert sich Freia Meißner, die noch heute davon beeindruckt ist, wie respektvoll der Politiker seine Sicherheitsleute behandelte. „Immer auf Augenhöhe – nur wenn er einen Bommerlunder ausgab, bekamen sie nichts ab – sie waren ja im Dienst.“

Streit um Gas-Pipeline schon vor 40 Jahren

Gemeinsam fuhren Bahr und Lednew von Neukirchen aus zu Bundeskanzler Schmidt, der die Weihnachtsferien in seinem Wochenendhaus am Brahmsee zwischen Rendsburg und Neumünster verbrachte. Die US-Regierung und ihre Geheimdienste, so schildert es Egon Bahr, informierten die Bundesregierung erst Tage später über die Ereignisse in Afghanistan.

Was Bahr in seinen Erinnerungen nicht erwähnt: In Moskau hatten zu jenem Zeitpunkt gerade Verhandlungen über den Bau einer Gas-Pipeline von der Sowjetunion in die Bundesrepublik begonnen. Mehr als 40 Jahre vor Nord Stream 2.

Es sind Parallelen wie diese, die es verlockend erscheinen lassen zu fragen, wie Egon Bahr wohl auf die aktuelle Ukraine-Krise reagiert hätte. 2014, als Wladimir Putin die Krim annektierte, lebte Bahr noch und war ein gefragter Talkshow-Gast. In seinen Äußerungen von damals hört man eine gewisse Ratlosigkeit, verbunden mit dem Appell, den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. Junge Außenpolitiker aus seiner eigenen Partei sollen ihm damals gesagt haben: „Du hattest Glück, Egon, deine Partner in Moskau waren berechenbar und verlässlich. Unsere heute sind keines von beiden.“

Freia Meißner ist überzeugt, dass es Bahr gelungen wäre, die Krise zu entschärfen. „Mit Egon wäre das alles nicht passiert. Er hat immer gesagt; Frieden ist das Allerwichtigste.“

Nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan jedenfalls reagierte die Bundesrepublik zwar mit einem Boykott der Olympischen Spiele in Moskau. Das Pipeline-Projekt aber lief ungerührt weiter, auch unter dem späteren CDU-Kanzler Helmut Kohl – trotz Protesten und Sanktionen aus den USA.

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