Schleswig-Holstein

Wann ist die Corona-Pandemie zu Ende? Acht Experten antworten

Wann ist die Corona-Pandemie zu Ende? Acht Experten antworten

Wann ist die Corona-Pandemie zu Ende? Experten antworten

Ulrike Gebhardt/shz.de
Flensburg
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Wann müssen wir uns wegen Corona keine Sorgen mehr machen und wann sind Inzidenzen egal? Acht Experten geben Auskunft. Foto: www.imago-images.de/shz.de

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In vielen Ländern schnellen die Corona-Ansteckungen in die Höhe, dabei hatte etwa US-Präsident Joe Biden bereits verkündet, die Pandemie sei vorbei. In welcher Phase befinden wir uns, wie wird eine Endemie aussehen, was müssen wir jetzt tun?

Die Situation ist verwirrend. Auf der einen Seite verkünden Menschen mit hoher medialer Reichweite – wie etwa US-Präsident Joe Biden Ende September – die Pandemie sei vorbei. WHO-Chef Tedros Ghebreyesus sagt hingegen, die Pandemie sei noch nicht vorbei, aber das Ende in Sicht.

Gleichzeitig schnellen in vielen Ländern gerade die Corona-Ansteckungen in die Höhe. Auch die Hospitalisierungsrate von Menschen mit Covid-19 und die Zahl der Todesfälle steigen an. Weltweit starben Anfang Oktober 2022 rund 9600 Menschen pro Woche im Zusammenhang mit Covid-19.

Wo stehen wir in der Corona-Pandemie? In der Mitte, am Ende oder sind wir vielleicht doch schon durch? Wir haben zwölf Experten zum Thema angeschrieben mit der Frage: Ist die Corona-Pandemie tatsächlich zu Ende? 

Acht Wissenschaftler haben geantwortet. Darunter sind einige Fachleute, deren Einschätzungen immer wieder in den Medien auftauchen. Es sind aber auch solche dabei, deren Stimmen man bisher weniger gehört hat. Geantwortet haben uns Martina Sester, Clemens Wendtner, Andreas Dotzauer, Jonas Schmidt-Chanasit, Andreas Bergthaler, Jana Schroeder, Ulrike Protzer und Werner Solbach. So beurteilen sie die aktuelle Situation im Herbst:

1. Die Immunologin Martina Sester blickt optimistisch in die Zukunft

„Aus meiner Sicht ist die Pandemie natürlich noch nicht zu Ende, wie man gerade an den massiv steigenden Infektionszahlen sieht, aber dennoch blicke ich sehr optimistisch in die Zukunft“, schreibt Martina Sester von der Universität des Saarlandes in Homburg. Die Professorin für Transplantations- und Infektionsimmunologie hat in Studien die Wirksamkeit von Impfstoffen gegen Covid-19 untersucht.

Das sei das besondere Verdienst der zellulären Immunität, die wenig durch Virusvarianten beeinträchtigt sei.

Besonderes Augenmerk auf vulnerable Gruppen richten

Unser besonderes Augenmerk sollten wir auf die vulnerablen Gruppen richten, deren Situation sich aber ebenfalls deutlich verbessert habe, so Martina Sester. Impfungen milderten auch bei ihnen die Schwere der Erkrankung. Außerdem verfügten wir inzwischen über therapeutische und vorbeugende Maßnahmen, mit denen sich die Verläufe abmildern ließen. Gerade die vulnerablen Menschen profitierten beispielsweise besonders von Booster-Impfungen mit den neuen Varianten-Impfstoffen.

Zudem mahnt Martina Sester:

Als Beispiel nennt sie die jährliche Influenza-Impfung.

2. Der Infektiologe Clemens Wendtner sieht Gefahr in vorschneller Entwarnung

Clemens Wendtner, Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie, Immunologie, Palliativmedizin, Infektiologie und Tropenmedizin an der LMU München ist nicht so optimistisch wie der US-Präsident:

Nicht nur in Deutschland erlebe man gerade ein dynamisches Infektionsgeschehen mit einer starken Viruszirkulation in einer nur teilimmunisierten Bevölkerung. Erschwerend kämen Virusvarianten mit Immunfluchteigenschaften hinzu. Die Hospitalisierungsinzidenzen lägen in einigen Regionen höher als in den schlimmsten Zeiten 2020/2021.

„Es ist daher unser aller Aufgabe, hier nicht vorschnell Entwarnung zu geben und die Infektionen ,durchlaufen‘ zu lassen, da dies nicht nur viele Menschenleben direkt kosten, sondern darüber hinaus die Gesundheitsversorgung insgesamt durch Personalüberlastung und -ausfälle gefährden würde“, sagt Wendtner. In den nächsten Monaten bräuchten wir noch eine gehörige Portion Disziplin, die Booster-Impfungen, Maskenpflicht und Kontaktreduktion umfassen könnte.

3. Der Virologe Andreas Dotzauer sieht noch keine endemische Phase

„Eine endemische Phase ist durch sowohl zeitlich als auch lokal eng begrenzte Ausbrüche gekennzeichnet und auch die Anzahl an Neuinfektionen ist relativ gering – so wie wir das von Kinderkrankheiten her kennen“, antwortet Andreas Dotzauer, Virologe an der Universität Bremen.

Die weltweite Ausbruchssituation sähe derzeit aber immer noch anders aus: Häufige, starke Infektionswellen, die lokal und auch von der Zeit her eben nicht enger begrenzt seien.

4. Virologe Jonas Schmidt-Chanasit weist auf die unklare Definition des Begriffs hin

Auf die Frage, ob die Pandemie zu Ende sei, könne man keine einfache Antwort geben, sagt Jonas Schmidt-Chanasit, Virologe am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg. Darum werde diese Frage in den Ländern ja auch unterschiedlich beantwortet.

Ob wir uns noch in einer Pandemie befänden, müsse letztlich die Gesellschaft beziehungsweise die Politik diskutieren und entscheiden. Wissenschaftler könnten mit entsprechenden Daten nur einen Teilaspekt für diese Entscheidung liefern.

Die gesellschaftliche Diskussion zum Thema sei enorm wichtig. Allerdings müssten alle Blickwinkel auf das Thema berücksichtigt werden. „Aktuell ist es häufig so, dass manche Lage-Beurteilungen wenig Gehör finden“, kritisiert der Hamburger Virologe.

Zahlen sind nicht alles

Statt mit den plakativen Begriffen „Pandemie“ und „Endemie“ zu hantieren, hält er es für wichtiger, den Menschen die Situation genau zu beschreiben, in der wir uns gerade befinden: Ja, die Infektionszahlen werden wieder steigen; ja, es wird leider auch weiter Tote geben.

Teilfluchtvarianten des Coronavirus gebe es, auch das sei keine Frage. Dass jedoch ein völlig neues Sars-CoV-2 auftauche, das der Immunantwort komplett entgehe, hält Schmidt-Chanasit für extrem unwahrscheinlich.

5. Der Immunologe Andreas Bergthaler: Ende der Pandemie ist Definitionssache

„Das Ende der Pandemie ist wohl letztlich eine Definitionssache“, schreibt Andreas Bergthaler, Immunologe an der Medizinischen Universität Wien. „Meinen wir damit, dass die WHO Covid-19 nicht mehr als Pandemie einstuft? Beziehen wir uns darauf, dass unser Gesundheitssystem nicht mehr regelmäßig Gefahr läuft, aufgrund dieses Infektionserregers überlastet zu sein? Oder geht es darum, inwiefern wir diese zweieinhalbjährige Krise neben all den anderen Krisen als solche überhaupt noch wahrnehmen wollen?“

Der viel bessere Immunisierungsgrad im Vergleich zu 2020 stimme ihn zuversichtlich. Eine durchschnittlich gesunde Person laufe daher immer weniger Gefahr, schwer zu erkranken.

Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund eines zunehmend fehlenden Willens in Politik und weiten Teilen der Bevölkerung, präventive Maßnahmen zu ergreifen. Zum Virus selbst möchte Bergthaler keine Prognose abgeben, „da uns dieses Virus schon zu oft überrascht hat.“

6. Infektiologin Jana Schroeder: Gefährdung wie durch Influenza

Die Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie vom Mathias-Spital in Rheine, Jana Schroeder, stellt ihrer Antwort die Definition des Begriffs „Pandemie“ des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2009 am Beispiel des Grippe-Virus voran.

Letztlich handele es sich dabei primär um eine Definitionsfrage, die keine Aussagen zur Krankheitsschwere oder der lokalen Belastung des Gesundheitswesens mache und daher nicht überbewertet werden sollte.

„Vermutlich werden wir erst im Nachhinein festlegen können, zu welchem Zeitpunkt genau das Ende der Pandemie gewesen sein wird, denn Covid wird bleiben.“ Durch Impfungen, verbesserte Therapiemöglichkeiten und eine weniger pathogene Variante seien wir zum jetzigen Zeitpunkt, was schwere Erkrankungen und Tod anbetrifft, ungefähr bei der Gefährdung durch die Influenza-Grippe angekommen.

Das führe insgesamt zu höheren absoluten Infektionszahlen, Arbeitsausfällen und chronischen Krankheitsfolgen.

7. Virologin Ulrike Protzer: Die Pandemie hat ihren großen Schrecken verloren

Die Pandemie im engeren Sinn sei nicht vorbei, weil es ja weiterhin eine starke, weltweite Ausbreitung des Sars-CoV-2 mit hohen Erkrankungszahlen und zum Teil auch schweren Verläufen gebe, schreibt Ulrike Protzer, Direktorin am Institut für Virologie der TU München.

8. Mikrobiologe Werner Solbach sieht die Gesellschaft in der Verantwortung

Die Pandemie sei keinesfalls zu Ende, wenn wir uns auf die bei Wikipedia zu lesende Definition von „Pandemie“ einigten, schreibt Werner Solbach, emeritierter Professor der Universität zu Lübeck mit den Fachgebieten Medizinische Mikrobiologie, Virologie und Infektionsmedizin.

Es werde noch eine ganze Zeit lang dauern, bis sich das Virus stabil in der Welt eingenistet habe – vermutlich mit immer neuen Varianten – und dann endemisch zu einer „balancierten Pathogenität“ geworden sei“, schreibt Solbach.

Was demnächst wohl vorbei sei – dank Impfung, Masken und Virustatika (zum Beispiel Paxlovid) – sei die gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite. Es werde weiterhin viele Fälle geben, aber ohne eine Überlastung des Gesundheitssystems.

„Covid-19 wird eine ,normale‘ Infektion der Atemwege werden, die sich zu anderen winterlichen Infektionen wie zum Beispiel der Influenza gesellt.“ Staatliche Maßnahmen, die über Appelle und Informationen hinausgingen, seien nicht mehr notwendig.

Fazit: Corona ist noch nicht vorbei

Corona ist noch nicht vorbei, da sind sich die Experten einig. Wir stehen wegen der durch Impfungen und/oder Infektionen erworbenen Immunität jedoch an einem völlig anderen Punkt als noch zu Beginn der Pandemie. Wegen des immer noch sehr dynamischen Infektionsgeschehens sind Schutzmaßnahmen notwendig, vor allem um die gefährdeten Menschen in der Gesellschaft vor einem schweren Covid-19-Verlauf zu schützen.

Jeder ist hier gefragt, sich verantwortungsbewusst zu verhalten. Es gilt, eine gesunde Vorsicht walten zu lassen, keine Panik, keinen Fatalismus, Vertrauen auf die eigenen und gesellschaftlichen Abwehrkräfte, eine offene, gesellschaftliche Diskussion, die unterschiedliche Ansichten nicht ausblendet, sondern als Qualitätsmerkmal einer vielfältigen Gesellschaft anerkennt.

Wann die Corona-Pandemie zu Ende ist, ist weniger eindeutig. Das liegt vor allem daran, dass wir, im Gegensatz zu den Grippe-Pandemien, einfach noch keine Erfahrungen mit Corona-Pandemien haben. Das Ende der Pandemie zu erreichen, sei nicht wie eine Fahrt von einem Bezirk in den nächsten, schreibt die Wissenschaftsjournalistin Helen Branswell.

Es gebe keine festgesetzte Abgrenzungslinie zwischen der Pandemie und der Phase danach. Wir wissen einfach noch nicht, wie genau eine Covid-19-Endemie aussehen wird, wie viele Fälle es jährlich, in welchem Zeitraum geben wird, wie viele leichte, wie viele schwere Fälle und wie viele Tote.

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