Zerbrechliche Unterwasserwelt

Seegraswiesen in der Ostsee als Geheimwaffe gegen den Klimawandel

Seegraswiesen in der Ostsee als Geheimwaffe gegen den Klimawandel

Seegraswiesen als Geheimwaffe gegen den Klimawandel

SHZ
Kiel
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Wie eine Prärie: Bis zu zwölf Megatonnen CO₂ haben die Seegraswiesen entlang der deutschen Küstenlinie gespeichert. Foto: Pekka Tuuri/shz.de

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Seegras speichert CO2 und könnte im Kampf gegen den Klimawandel wichtig werden. Auch wenn sich die Bestände leicht erholt haben, bleibt die Ostsee aber ein Patient.

Wer auf der Südseite Fehmarns, in der Lübecker oder in der Eckernförder Bucht abtaucht, kann kilometerweit über Wiesen schwimmen. Es stelle sich über dem Seegras ein Gefühl der Unendlichkeit ein – auch, weil das Blickfeld durch die Tauchermaske begrenzt ist, sagt Ökologe Thorsten Reusch. Je nach Standort sei das Gras bis zu 1,5 Meter hoch, der Boden der Ostsee eng mit bis zu 600 Pflanzen pro Quadratmeter bewachsen. „Es ist beeindruckend, es ist wie eine Prärie.“

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Der Ökologe sitzt in seinem Büro im Untergeschoss des Kieler Geomar Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung. Er leitet dort den Bereich Marine Ökologie. Seitdem Seegras als „Klimapflanze“ gehandelt wird, ist das Interesse an seiner Forschung hoch. „Ein solcher Hype war noch nie.“

Wenn Seegras wachsen soll, muss nachgeholfen werden

Er habe Anfragen von Tauchclubs, ob sie bei der Ansiedelung neuer Pflanzen helfen könnten, von Firmen, die gerne Ökokonten anlegen, in die Anpflanzung von Seegras investieren wollen. Doch Reusch muss sie vertrösten. Die Projekte für dieses Jahr sind abgeschlossen, für nächstes Jahr akquiriert er derzeit frisches Geld, und wie Unternehmen einsteigen könnten, ist noch nicht klar. Die Anpflanzung zu zertifizieren, sei ein Fernziel, das Institut für Weltwirtschaft sei an Bord, rechne die Wiederanpflanzung derzeit durch. „Wir sind in einem Suchprozess, was geht“, sagt Reusch.


Eines jedoch ist klar: Wenn die Bestände des Seegrases wachsen sollen, muss nachgeholfen werden. „Die Samensterblichkeit ist enorm hoch. Von einer Millionen Samen macht es einer“, sagt Reusch. Seegras pflanzt sich unter Wasser ähnlich wie Pflanzen an Land fort. Abiotische Bestäubung nennen Biologen dies.

Den Fruchtknoten müsse man sich V-förmig vorstellen, die Pollen wie „kleine Spaghetti“, die mit der Strömung durchs Wasser getragen werden und sich um den Fruchtknoten schlingen, so Reusch. Dann bildet sich der Samen, Ähren wachsen.

Bis zu zwölf Megatonnen CO2 haben die Wiesen gespeichert

Der Aufwand, die Bestände in der Ostsee zu erhöhen, lohnt sich – vor allem in einer Zeit, in der sich das Klima ändert und der Treibhauseffekt begrenzt werden soll, sollen Seegraswiesen helfen, Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu entfernen. Die Ergebnisse des Geomar zeigen, dass Seegras bei der Speicherung des Treibhausgases oben mitspielt, ähnlich viel festsetzt wie Moore oder Salzwiesen.

Meere gehören zu den größten CO2-Speichern auf der Erde. Das Gas löst sich im Oberflächenwasser, wird durch Strömungen und Mischprozesse nach und nach in die tieferen Bereiche transportiert. „Sie sind biologische Kohlenstoffpumpen“, sagt Reusch. Entweder wird das Treibhausgas von Pflanzen aufgenommen oder von der Tiefsee geschluckt.

In der deutschen Ostsee haben Seegraswiesen etwa drei bis zwölf Megatonnen Kohlendioxid gespeichert, das zuvor vom Meer aufgenommen wurde. Die Pflanzen nehmen das Treibhausgas über die Blätter auf, pumpen es in die Wurzeln und im Sediment darunter wird es dem Kreislauf entzogen. Dort haben die Forscher des Geomar zwei- bis sechzigmal so viel organischen Kohlenstoff nachgewiesen wie in Sedimenten ohne Seegras. Die Forscher gehen davon aus, dass pro Quadratmeter Seegraswiese zehn Kilogramm Kohlenstoff gespeichert sind. „Die Berechnungen beruhen auf geschätzten Werten“, so Reusch. Die genaue Rate der Speicherung zu ermitteln, sei äußerst schwierig.

Seegraswiesen sind auch Bakterienfänger

Seegraswiesen helfen nicht nur dabei, den Klimawandel abzumindern, Nährstoffe aufzunehmen und so der Überdüngung und Algenblüten etwas entgegenzusetzen, sondern auch dabei, die Konzentration von gesundheitsschädlichen Bakterien im Wasser zu senken – das belegen die neuesten Forschungsergebnisse des Geomar. „Sie sind Vibrionen-Fänger“, sagt Reusch. An fünf Standorten in der Kieler Bucht seien Wasserproben aus bewachsenem und nicht bewachsenem Sandgrund genommen worden. Das Ergebnis: An den Stellen, wo es Seegras gab, konnten bis zu zwei Drittel weniger Vibrionen nachgewiesen werden – sprich Bakterien, die Infektionen verursachen, die für Menschen mit Vorerkrankungen oder einem geschwächten Immunsystem lebensbedrohlich oder gar tödlich sein können.


Wie die Pflanzen die Bakterien aus dem Wasser fischen, sei unklar, so Reusch. „Wir haben drei Ideen.“ Erste: biomechanisch – feine Partikel, an denen die Vibrionen anhaften, setzen sich in den dichten Wiesen ab. Zweite: chemische Substanzen – Seegrasblätter geben sogenannte Polyphenole ab, die das Wachstum der Bakterien hemmen. Dritte: Mikrofauna – Rädertierchen, Moostierchen und Seepocken fressen die Kleinstpartikel, an denen die Vibrionen haften. Diese drei Theorien wollen die Forscher näher untersuchen. Weil der Effekt groß sei, könnte „von allem ein bisschen“ in Frage kommen, so Reusch.

Seegras ist ein Messinstrument für die Wasserqualität

Um zu wachsen, braucht Seegras vor allem klares Wasser, wenig Nährstoffe und wenig bis gar kein Plankton, dann könnten sich Wiesen bis in eine Wassertiefe von bis zu neun Metern ausbreiten, in den Förden von bis zu fünf Metern. In der Lübecker sowie der Eckernförder Bucht und auf der Südseite von Fehmarn stimmten die Bedingungen. Seegras sei durchaus ein Messinstrument für die Wasserqualität, sagt Reusch.

Etwas mehr als 400 Quadratkilometer Seegraswiesen gebe es im deutschen Teil der Ostsee – 185 Quadratkilometer in Schleswig-Holstein und ähnlich viel in Mecklenburg-Vorpommern. Wie groß die Fläche dort wirklich ist, sei schwierig zu beziffern, weil die Daten „nicht so gut“ seien, sagt Reusch.


Die Bestände seien einst wesentlich größer gewesen. In den 1930er-Jahren setzte dem Seegras ein Pilz zu. Eine Epidemie, die in Nordamerika begann, raffte große Bestände auch in der Ostsee dahin – und dies spürbar für den Menschen, so Reusch: Boden, der sonst von den Wurzeln der Pflanzen gehalten wurde, kam in Bewegung, Hafeneinfahrten waren nicht mehr so tief wie zuvor.

Die Ostsee ist nach wie vor überdüngt

Die Seegraswiesen erholten sich von der Epidemie nicht, ihr Bestand blieb dezimiert, verringerte sich gar weiter – auch, weil die Bedingungen nicht besser wurden. Das Hauptproblem: Eutrophierung, also eine Anreicherung von Nährstoffen, so Reusch. Diese gelangen und gelangten durch Düngemittel der Landwirtschaft in den Wasserkreislauf und ins Meer. Die Folge: Eine hohe Konzentration von Stickstoff und Phosphat sorgt für ein unnatürliches Algenwachstum. „Algenmatten ersticken alles“, sagt Reusch. Die Pflanzen sterben ab und zersetzen sich. Dabei entziehen sie dem Meer Sauerstoff, der dann anderen Pflanzen und Tieren fehlt. Was dies im schlimmsten Fall bedeutet, sei im Marmarameer in der Türkei zu beobachten. Irgendwann sei der „Umkehrpunkt“ erreicht und das Ökosystem kippt.

Ein Problembewusstsein dafür ist eigentlich da. Die Anrainerstaaten der Ostsee gründeten vor Jahrzehnten die Helsinki-Kommission (Helcom), unterzeichneten ein multilaterales Abkommen, um etwas für den Meeresschutz zu tun. 2007 legten Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Polen, Russland, Schweden sowie die EU einen ambitionierten Plan vor. Ihre Vision: 2021 sollte die Ostsee in einem guten ökologischen Zustand sein – ein Ziel, das nur in Teilen erreicht wurde. Die Ostsee ist immer noch Patient.

Bis zu 70 Prozent der Seegraswiesen sind verschwunden. „Der Verlust ist seit etwa zehn Jahren gestoppt“, das Wasser sei klarer geworden, das Seegras habe sich leicht erholt, sei weiter in die Tiefe vorgedrungen, sagt Reusch. Das ist die gute Nachricht, die schlechte: Überdüngung ist nach dem Peak Mitte der 90er-Jahre weiterhin ein Problem. „Seit zehn Jahren stagniert die Nährstofffracht auf einem mittleren Niveau.“

Kritiker: Ostseeschutz wurde nicht konsequent umgesetzt

Die Helcom habe ein Umsetzungsproblem – auch Deutschland, sagt Reusch, der mit dieser Kritik nicht alleine dasteht. Auch die Umweltschutzverbände BUND und Nabu bemängeln, dass der Aktionsplan von 2007 zwar gute Ansätze gehabt habe, in den vergangenen 14 Jahren aber jedoch nur ein Bruchteil der Maßnahmen angepackt worden seien. „Das Problem ist, dass wir den Ostseeschutz bisher nicht konsequent umsetzen“, sagte BUND-Vorsitzender Olaf Brandt kürzlich. Der Meeresschutz müsse ernsthaft angegangen werden. Dies fordert auch der Nabu. „Wir erwarten, dass Bund und Länder Schutzmaßnahmen entschlossen umsetzen und die internationale Zusammenarbeit aktiv vorantreiben“, teilte der Verband zuletzt mit.


Die Erfolge der vergangenen Jahrzehnte würden durch Altlasten in der Ostsee überdeckt, heißt es auf Nachfrage aus dem Umweltministerium in Mecklenburg-Vorpommern. Die Nährstofflasten in den Sedimenten würden durch den geringen Wasseraustausch mit der Nordsee nur langsam abgebaut. „Diese Altlasten werden noch für Jahrzehnte zu negativen Begleiterscheinungen wie Algenüberproduktion und Sauerstoffmangel führen.“ Ökologe Reusch sieht diesen Faktor auch: Es dauere, bis sich die Ostsee erhole, das Gewässer einmal „durchgespült“ sei.

Landwirtschaft hat zu lange auf Intensivierung gesetzt

Aber auf die derzeitige Lage hat das Ministerium eine andere Sicht als die Kritiker: Die Einträge von Stickstoff in die Ostsee über die Flüsse konnten in den vergangenen zehn Jahren „durchaus substanziell gesenkt werden“, heißt es. „Dieses gilt auch für die relativ kleinen deutschen Einzugsgebiete.“ Nachholbedarf gebe es bei der Stickstofffracht über die Luft – diese mache 30 Prozent aus, insbesondere aus Deutschland, so das Umweltministerium MV, das Industrie und Verkehrssektor hier in der Pflicht sieht.

In Mecklenburg-Vorpommern seien rund 2,5 Milliarden Euro investiert worden, um vor allem die Kläranlagen auf den neuesten Stand der Technik zu bringen. Auch seien Moore ertüchtigt worden, um den Nährstoffrückhalt in der Landschaft zu stärken. Aus Schweriner Sicht war Deutschland nicht zu nachlässig, gemessen an der Küstenlinie. „Die Musik spielt sicherlich in den großen Einzugsgebieten Skandinaviens, Russlands und Polen, wenn es um eine weitere substanzielle Reduktion der Einträge geht“, heißt es aus dem Umweltministerium MV.

Die Landwirtschaft habe zu lange auf die Intensivierung der Produktion gesetzt, ohne dabei „Umweltbelange ausreichend zu berücksichtigen“, sagt ein Sprecher des Bundesumweltministeriums. Die Folge: Die Gewässer wurden belastet. Wegen der hohen Nitratwerte hatte der Europäische Gerichtshof 2018 Deutschland in einem Vertragsverletzungsverfahren verurteilt. „Die bisherigen Bundesregierungen hatten es versäumt, ein Programm zur Einhaltung der EU-Vorgaben umzusetzen“, so der Sprecher weiter. Im Frühjahr 2020 wurde dies korrigiert – der Bundesrat habe die vom Bundeskabinett beschlossene Novelle der Düngeverordnung verabschiedet. „Die EU-Kommission hat die Änderung begrüßt“ und lasse derzeit das im Juli 2019 eingeleitete Zweitverfahren gegen Deutschland ruhen.

Umweltministerien setzen auf neue Düngeverordnung

Derzeit prüft die Kommission, ob Deutschland die Vorgaben des Europäischen Gerichtshof einhält. In Berlin jedenfalls ist man guter Dinge: Gemäß der EU-Nitratrichtlinie müsse alle vier Jahre über die Umsetzung berichtet werden. Laut aktuellem Bericht aus dem Jahr 2020 habe sich der Zustand des Grundwassers in Deutschland leicht verbessert. „Die Konzentrationen von Pflanzennährstoffen in den Küsten- und Meeresgewässern von Nord- und Ostsee sind aber weiterhin zu hoch“, so der Sprecher des Bundesumweltministeriums – und geht davon aus, dass die neue Düngeverordnung erfolgreich dabei sein wird, die Belastung zu senken.

Im Schweriner Ministerium ist man ebenfalls von den neuen Regeln überzeugt, die für besonders belastete Gebiete strikt in den einzelnen Ländern umgesetzt worden seien, heißt es aus dem Umweltministerium MV, das im Kampf gegen Eutrophierung auch auf digitale Technik setzt: Diese ermögliche eine „präzisere punktgenaue Nährstoffversorgung der Pflanzen“ und vermindere die Austräge. „Trotz aller schon erzielter Erfolge kommt der Landwirtschaft weiterhin eine wichtige Rolle bei der Minderung der Einträge von Nährstoffen in der Ostsee zu.“

Schutz der Ostsee ist eine internationale Aufgabe

Deutschland und die anderen Anrainerstaaten wollen sich verstärkt um das Problem der Eutrophierung in der Ostsee kümmern, so der Sprecher aus dem Bundesumweltministerium. Wichtigste Punkt im fortgeschriebenen Aktionsplan: nationale Maximalmengen an Nitrat, Phosphat und anderen Stoffen und die Etablierung eines nachhaltigen Managements von Nährstoffen. Im neuen Plan sei alles „wesentlich zielgenauer formuliert als im alten“ und die jeweiligen Verknüpfungen zum EU-Recht erhöhten die Verbindlichkeit und den Handlungsdruck für die EU-Mitgliedsstaaten an der Ostsee, heißt es aus Schwerin.

Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein übernehmen für jeweils ein Jahr den Vize-Vorsitz der Ostseeschutzkommission. Umweltminister Jan Philipp Albrecht (Grüne) sagte anlässlich des Treffens der Anrainerstaaten, dass die großen Herausforderungen der Ostsee nur durch internationale Zusammenarbeit gelöst werden könnten. Fragen wie etwa danach, ob Deutschland die Umsetzung der Helcom-Ziele vernachlässigt hat, wie das Nichterreichte aufgeholt werden kann oder welche Rolle die Landwirtschaft beim Erreichen der Ziele spielt, ließ das Ministerium unbeantwortet und verwies auf das Bundesumweltministerium.

Ökologe fordert eine andere Landwirtschaft

Reusch dagegen plädiert für einen radikaleren Schritt. Um die Wasserqualität der Ostsee zu verbessern, müsse in der Landwirtschaft umgedacht werden, müsse sie anders betrieben werden – ein Schritt, den die Bauern jedoch nicht alleine gehen können, der nicht alleine durch weitere neue Verordnungen und etwas strengere Regeln umgesetzt werden könne. Für den Ökologen ist dies eine gesellschaftliche Aufgabe.

„Wir müssen überlegen, was für eine Landwirtschaft wir haben wollen, wie Lebensmittel produziert werden sollen“ und letztlich die Frage, was der Verbraucher bereit ist, für Fleisch, Milch, Gemüse und Obst zu bezahlen, sagt er. Gemessen am Einkommen, sei vor Jahrzehnten in Deutschland mehr Geld für Essen ausgegeben worden. Wäre die Bereitschaft da, wieder so viel für das Lebensnotwendige aufzubringen, könnte ein Wandel in der Bewirtschaftung der Felder klappen.

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Gwyn Nissen
Gwyn Nissen Chefredakteur
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