Tag der Wohnungslosen

Corona auf der Straße – unterwegs mit einem Obdachlosen

Corona auf der Straße – unterwegs mit einem Obdachlosen

Corona auf der Straße – unterwegs mit einem Obdachlosen

SHZ
Flensburg
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Obdachlos in Flensburg – Corona macht das Leben von Schrammi (49) noch etwas schwieriger. Foto: Inga Gercke/shz.de

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Corona hat natürlich auch das Leben von Obdachlosen verändert – von der Politik fühlten sie sich vergessen.

Schwierig ist das Betteln in Zeiten von Corona – wenn die Geschäfte zu, die Einkaufsstraßen leer und die Angst vor einer Ansteckung allgegenwärtig sind. Sicher, alle sind betroffen. Die einen mehr, die anderen weniger. Ich habe mich gefragt, wie Obdachlose die Pandemie erleben. Antworten gab mir Schrammi – ein Obdachloser aus Flensburg.

Schrammi wird bald 50 und lebt seit gut 20 Jahren auf der Straße – mit kleinen Unterbrechungen. Außerdem ist er drogen- und alkoholabhängig.

Schrammis Tagesablauf besteht aus betteln, Drogen kaufen, Drogen konsumieren, mit Kumpels schnacken, herumlaufen und schlafen. Heute nimmt er mich mit auf eine Tour – oder besser gesagt: auf seine Tour.

Blind Date am Zob

Es ist ein Dienstag, kurz vor 14 Uhr. Draußen nieselt es und wir haben gerade einmal sieben Grad. Schrammi und ich sind am Flensburger Zob verabredet. Er ist pünktlich und scheint auch ganz gut drauf zu sein. Es geht Richtung Angelburger Straße. Unser Ziel ist der Edeka-Markt. „Also da vorne an der Ecke sitze ich meistens. Man muss immer aufpassen, man darf nicht unter den Unterstand, weil der gehört dann schon zu Edeka und da jagen die einen immer gerne weg.“

Mich interessiert, wie man eigentlich bettelt? Sitzt man da und wartet einfach? Oder spricht man die Menschen direkt an? Spricht Schrammi die Menschen an?

Kaum Menschen in der Stadt

Seitdem die Geschäfte wegen der Corona-Regeln schließen mussten, sei das Betteln schwierig geworden, erzählt er mir. „Also jetzt zu Corona ist es halt auch besonders schwer, weil es ist ja kaum noch jemand auf der Straße. Und da kann man auch noch so überlegen, wie man will, die wenigsten schmeißen nachher da was in den Becher rein. Das ist das eben. Und je weniger Leute auf der Straße, desto weniger Kohle kriegt man zusammen.“

Zu seinen ständigen Geldsorgen kommt auch noch sein Drogenproblem. Seit 25 Jahren konsumiert er regelmäßig. Gerade hat er Schore bekommen. Das ist Heroin, erklärt er mir, aber spritzen tue er sich das nicht mehr. Seit 15 Jahren zieht er sich die Droge durch die Nase. Aber dazu später mehr.

Schrammi ist schon ganz schön herumgekommen. Er lebte bereits in Frankfurt, Berlin und in Hamburg auf der Straße, aber den gebürtigen Flensburger zog es immer irgendwie wieder zurück in seine Heimatstadt.

Wie kam es zur Obdachlosigkeit?

Ich frage ihn, wie er obdachlos geworden ist? „Ja, eine Verkettung von unglücklichen Umständen würde ich sagen.“ Schrammi hat eine Lehre als Bäcker angefangen, diese dann aber abgebrochen, das sei nicht so sein Ding gewesen. Dann machte er eine Lehre zum Drucker. Die habe er auch abgeschlossen, allerdings übernahm ihn die Firma dann nicht. Es folgten ein paar Gelegenheitsjobs, bis dann schließlich die Drogen dazu kamen:

Der Kummerkasten am Südermarkt

Wir gehen weiter Richtung Südermarkt. Bei den öffentlichen Toiletten stehen einige Menschen. Man kennt Schrammi. Er wird von vielen gegrüßt. Ich allerdings werde irgendwie skeptisch angeschaut, habe ich das Gefühl. Einer, der mit mir spricht, ist Toilettenwart Ralf. Er bezeichnet sich selbst als eine Art Kummerkasten. „Ich helfe den Menschen, indem ich denen zuhöre.“

Und Ralf hört viel. Denn hier treffen sich all diejenigen, die sonst nicht genau wissen, wohin sie sollen. Wie wird Corona denn hier am Südermarkt wahrgenommen? Hat sich irgendetwas verändert? „Seit Corona? Hier? Nichts, gar nichts. Hier hat sich nichts verändert. Die Leute, die es betrifft – jetzt hier –  die Grüppchen, es wird ja immer gesagt, Grüppchenbildung muss vermieden werden, das können die hier nicht durchsetzen. Das geht nicht. Weil die ganzen Obdachlosen hängen sowieso auf einem Haufen, die kennen sich untereinander und die lassen es sich von niemand verbieten, zusammen zu sein. Das ist deren einziger sozialer Zusammenhang, den sie hier haben“, sagt er.

Rosie – Helferin mit Know-How

Eine, die hier regelmäßig vorbeischaut, ist Rosie. Sie war selbst lange obdachlos und ist in Flensburg bekannt wie ein bunter Hund. Rosie ist schwer krank und sitzt im Rollstuhl. Trotzdem verteilt sie regelmäßig mit ihrem Stiefsohn Essens- und Kleiderspenden. Auch hier auf dem Südermarkt.

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In mein Gespräch mit Ralf klinkt sie sich plötzlich ein. Sie macht deutlich, dass wir zusehen sollten, dass wir hier wegkämen. Wir gehen.

Rosie habe irgendwie das Gefühl gehabt, dass die Stimmung aggressiv wurde, erzählt sie uns, als wir durch die leere Flensburger Innenstadt Richtung Nordermarkt gehen. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Rosie hatte den richtigen Riecher. Denn kurz nachdem wir den Platz verlassen hatten, wurde auf Ralf eingeschlagen. Warum genau, das kann uns einige Tage später keiner mehr sagen. Doch Rosie erklärt, dass das nicht selten vorkomme. Gerade bei Alkohol- und Drogenabhängigen schlage die Stimmung schnell mal um.

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Ich will von Schrammi – der ja täglich doch mit vielen Menschen Kontakt hat – wissen, ob er gar keine Angst vor einer Corona-Infektion hat?

Mehr Unterstützung für Obdachlose

Aber momentan habe Schrammi ganz andere Sorgen als Corona. Er ist sauer auf die Politik und wünscht sich mehr Unterstützung für suchtkranke Obdachlose: „Wenn ich nur daran denke, dass es in  – ich glaube, es war in Hamburg – da fährt ein Auto durch die Gegend, und wenn du morgens irgendwie keinen Schuss gekriegt hast oder so, dann kannst du dir da ein Stück Methadon abholen. Und so etwas fehlt hier halt in dieser Stadt.“

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Was würde ihm noch ganz konkret helfen?

„Dass die ganze staatliche Mischpoke mal einsieht, dass das alles ein bisschen einfacher gehen sollte. Nicht, dass man wochenlang auf seine Kohle warten müsste oder dass man auch mal ein paar Euro mehr kriegt, wenn man sie braucht. Das ist das eben, das wäre nicht schlecht.“ Wobei Schrammi die Spenden sehr wohl zu schätzen weiß. Er sagt: „Klamotten spenden ist okay, Essen spenden ist okay, ist alles okay. Bloß manchmal hapert es tatsächlich nur an ein paar Euro, dass es einem besser geht. Es gibt so viele Alkis, die unterwegs sind, die können sich ihren Alkohol nicht leisten, es gibt so viele Drogisten, die unterwegs sind, die können sich ihren Stoff nicht leisten und, und, und. Und da müsste der Staat mal einspringen und sagen okay, dann verteilen wir mal Ersatzdrogen.“

Die Nase wird gepudert

Wir kommen an einer zweiten öffentlichen Toilette vorbei – hier ist keiner. Schrammi muss sich „kurz die Nase pudern gehen“, sagt er und verschwindet. Nach drei Minuten kommt er wieder raus. Das Heroin, das er anfangs bekam, hat er nun konsumiert.

In 20 Minuten sei er wieder etwas besser drauf, erzählt er mir, dann nämlich würden die Drogen anfangen zu wirken. Aber das Wissen, dass der Stoff jetzt schon in seinem Körper ist, beruhige ihn.

Aufwärmen im Bus

Wir sind nun schon einige Stunden unterwegs und langsam zieht die Kälte hoch. Und apropos Kälte: Wie wärmt sich Schrammi überhaupt mal auf, wenn er doch den ganzen Tag unterwegs ist? „Ich bin in der glücklichen Lage, mich Besitzer eines Monatstickets schimpfen zu dürfen. Und das heißt für mich also, ab und zu einfach in den Bus für eine Stunde und meine Runden drehen. Da wärme ich mich dann auf so“.

Schlafplätze sind Geheimsache

Wir gehen die Toosbystraße runter Richtung Hafen. Schrammi will mir einen seiner alten Schlafplätze zeigen. Wo er aktuell schläft, das verrät er nicht. Zu groß ist die Sorge, dass andere davon spitz bekommen. Denn sichere Schlafplätze sind ein beliebtes Gut in der Szene. Nicht selten käme es zu Handgreiflichkeiten unter Obdachlosen. Auch Schrammi hat da schon Erfahrungen machen müssen: „Ja, ich wurde  nachts wach gemacht und solche Geschichten, dann haben sie mir versucht, mein Bier zu klauen, ich habe ein paar auf die Fresse gekriegt, mein Handy wurde kaputt gekloppt.“

In einem Hinterhof in der Speicherlinie stoppt er und ich staune plötzlich: Denn in einem Vorsprung unter einem Haus hatte er monatelang sein Lager. Ich wohnte zu dem Zeitpunkt vier Stockwerke über ihm. Doch mittlerweile ist der Unterschlupf zugenagelt.

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Dass ich Schrammi nie gesehen habe, hat einen einfachen Grund: Obdachlose ziehen es vor, vor allem tagsüber zu schlafen. Dann, wenn andere Menschen unterwegs sind. Das sorge für eine Art Grundsicherung. Frühmorgens und abends – nachts sowieso – sei er oft unterwegs. Also genau dann, wenn ich das Haus verlassen habe oder gerade wieder kam.

Nach all dem, was Schrammi mir erzählt hat, frage ich mich, ob es auch etwas Schönes zu berichten gibt? Worauf freut sich Schrammi? „Ja ganz im Ernst: Leute treffen. Leute, die halt gut drauf sind, mit denen man schnacken kann. Das ist eigentlich das, was mich noch so am Leben hält.“

Für die Zukunft wünsche er sich eine eigene Wohnung. „Ey man, ich werde bald 50. Da muss ich zusehen, dass ich auch mal bodenständig werde. Ich kann nicht den ganzen Tag immer sagen, joah, das schaffe ich schon irgendwie. Nee, ich brauch 'ne eigene Hütte jetzt.“

Schrammis persönliche Stadtführung neigt sich dem Ende zu. Ich bin durchgefroren und freue mich, dass ich gleich wieder in meiner warmen Wohnung sitze.  Und Schrammi? Was hat Schrammi heute noch so auf dem Zettel? „Ich bin noch eingeladen auf ein Tütchen beim Kollegen – das ist schon einmal sehr positiv“, freut er sich. „Joah, und dann werde ich mir späte noch mein Stöffchen besorgen, dass ich durch die Nacht komm. Ja und morgen früh fängt der Tag an, wie jeder Tag: Ich muss zusehen, wie ich klar komme.“

Obdachlosenhilfe bei Kälte

Grundsätzlich gilt: Wenn Sie jemanden auf einer Parkbank oder in einem Hauseingang liegen sehen, sprechen Sie diese Person an. Das gilt insbesondere abends und nachts. Bei Minusgraden besteht akute Lebensgefahr. Finden Sie heraus, ob Hilfe gewünscht und/oder gebraucht wird. Rufen Sie im Notfall mit Ihrem Mobiltelefon Hilfe oder alarmieren Sie andere Menschen in der Nähe.

In vielen Städten gibt es Hilfeangebote wie Obdachlosenunterkünfte. Sollten Sie dort niemanden erreichen, rufen Sie bitte Hilfe über die 112 oder 110.

Einige Notunterkünfte in der Region:

Flensburg: Obdachlosenunterkunft Wilhelminental – Tel.: 0461 85 25 71
Heide: Kommunal-Diakonischer Wohnungsverband –Tel.: 0481 68 50 500
Husum: Bahnhofsmission (Diakonisches Werk Husum gGmbH) – Tel.: 04841 25 39, Diakonisches Werk –Tel.: 04841 64 05 86
Kiel: Bodelschwingh-Haus für Männer (Ev. Stadtmission) –Tel. 0 431 26 04 46 50 , Van-der-Camer-Haus für Frauen (Ev. Stadtmission) –Tel. 0431 26 04 44 76
oder Tel. 0431 26 04 44 71
Lübeck: Bodelschwingh-Haus (Vorwerker Diakonie e.V.) – Tel.: 0451 6 89 22
Neumünster: Übernachtungsstelle (Diakonie Altholstein) – Tel.: (ab 22 Uhr) 04321 4195-21, Übernachtungsstelle Gasstraße, Tel: 04321 4195-0
Pinneberg: Schäferhof, Notunterkunft für durchreisende Wohnungslose (Diakonisches Werk) –Tel. 04101 85 280 13 oder 85 280 15
Rendsburg: Notschlafstelle in der Materialstraße (Diakonie) –Tel.: 04331 69 63 0

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