Trotz Krieg

Archäologen aus Schleswig forschen weiter in der Ukraine

Archäologen aus Schleswig forschen weiter in der Ukraine

Archäologen aus Schleswig forschen weiter in der Ukraine

Kay Müller/shz.de
Schleswig/Kiew
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Wissenschaftler bei der Arbeit: Jens Schneeweiß koordiniert das Forschungsprojekt von seinem Büro auf Schloss Gottorf aus. Foto: Michael Staudt/shz.de

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Es ist ein europaweit nahezu einzigartiges Projekt, bei dem Jens Schneeweiß vom Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie mit Wissenschaftlern aus der Ukraine kooperiert.Die Forscher hoffen auf neue Erklärungen wie die Menschen im Mittelalter gelebt haben – und entdecken dabei erstaunliche Parallelen zur Gegenwart.

Der Kriegsbeginn ist für Jens Schneeweiß ein Schock. „Ich habe natürlich zuerst an meine Kollegen in Russland und der Ukraine gedacht“, sagt der Wissenschaftler vom Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie in Schleswig. „Wir haben uns nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine im Februar natürlich alle gefragt, was für Gefahren drohen und wie es weiter geht.“ Das hat auch für den Archäologen in Schleswig-Holstein Auswirkungen, denn nur drei Wochen zuvor hat er einen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für eine halbe Million Euro schweres, auf drei Jahre angelegtes Ausgrabungsprojekt am Ostriv in der Ukraine gestellt. „Wir haben dann unseren Antrag um ein weiteres Schreiben ergänzt, um deutlich zu machen, dass wir unbedingt an diesem Projekt festhalten wollen – und sei es mit Einschränkungen bei der Feldforschung.“

Und tatsächlich hat Schneeweiß jetzt die Bewilligung für das Projekt in den Händen. „Und wir haben auch schon mit den Ausgrabungen begonnen – trotz des Krieges“, sagt Schneeweiß, der sich per Video mit dem Grabungsteam austauscht. „Unsere ukrainischen Kollegen können besser als wir entscheiden, ob Grabungen möglich sind und würden sich nicht in Gefahr bringen.“

Wichtiges Personal steht an der Front und nicht im Labor

Doch dass es Widrigkeiten gibt, das ist auch dem Wissenschaftler aus Schleswig-Holstein klar. „So ist der Restaurator, der die Funde in der Ukraine technisch analysieren sollte, an der Front.“ Es sei aber auch unmöglich, die Funde aus der Ukraine herauszubekommen. „Also werden wir jemanden anlernen müssen, der den Job übernimmt“, sagt Schneeweiß, der zuversichtlich ist, in den kommenden zwei Jahren neue Forschungsergebnisse präsentieren zu können.

Schneeweiß meint, dass das Projekt für die Grabungsteams in der Ukraine auch „ein Stück Normalität in diesen schwierigen Zeiten“ ist. Dazu trage auch die Bedeutsamkeit des Fundplatzes bei. „Es ist äußerst selten, dass von einem Fundort, an dem wir Skelette und Grabbeigaben finden, auch schriftliche Zeugnisse überliefert sind“, sagt der habilitierte Archäologe. Gerade deswegen sei es wichtig, am Ball zu bleiben, denn immer wieder gebe es Grabräuber, die sich der antiken Schätze bemächtigen wollen, um sie gewinnbringend zu verkaufen. „Dabei zerstören sie aber den Fundort“, sagt Schneeweiß.

Das Ausgrabungsfeld liegt rund 100 Kilometer südlich von Kiew und ist bereits seit 2017 mit einer Pilotstudie erforscht worden. Es befindet sich an der Ostgrenze des ersten Staates auf dem Gebiet der späteren Sowjetunion. Anhand der bisherigen Funde aus dem 11. Jahrhundert vermuten Schneeweiß und seine Kollegen, dass Söldner aus dem Baltikum an der Südgrenze des Kiewer Reichs zur Grenzsicherung gegen Reitervölker aus den Steppen eingesetzt worden sein könnten. Das zeigen Funde von Gräbern und die Grabbeigaben, die es so auch im Baltikum gab.

Ein bisschen drängen sich Vergleiche zur heutigen Zeit auf: Eine Macht aus dem Westen versucht den Einheimischen militärisch gegen Aggressoren aus dem Osten zu helfen, die den Staat attackieren. So einen Vergleich würde Schneeweiß indes nie ziehen, denn sie sind eben stark vereinfacht. Dass die Ausgrabung in der Ukraine aber auch eine politische Position hat, will der 52-Jährige jedoch gar nicht verhehlen. „Wir erfahren ganz viel über ethnische Probleme, über Fremde in unterschiedlichen Gesellschaften und über deren Integration. Themen, die uns auch heute beschäftigen.“

Denn dass die Geschichte auch als politische Waffen benutzt werden kann, ist dem Archäologen klar. „Dafür gibt es auf der Welt immer wieder Beispiele – und Waldimir Putin macht da keine Ausnahme.“ Etwa wenn er die Kontinuität der mittelalterlichen christlichen Völker, mit deren Geschichte sich Schneeweiß beschäftigt, bis zu seiner Herrschaft nachzeichnen wolle. „Putin versucht, als selbst ernannter Historiker die Geschichte zu verbiegen und sie für sein eigenes Narrativ zu nutzen.“ Er benutze archäologische Ergebnisse und vereinfache sie so, dass sie auch als Rechtfertigung für einen Krieg herhalten könnten.

Wenn diese Erzählung auch bei vielen Menschen verfingen, die Mehrheit der Wissenschaftler in der Ukraine und in Russland könnten da schon genauer differenzieren, sagt Schneeweiß. Das sei auch ein Grund, warum das Projekt weiterlaufe, so der Forscher, der sich weitere Hinweise darüber erhofft, wie das Alltagsleben der Menschen vor rund 1000 Jahren ausgesehen hat.

Jens Schneeweiß war schon oft in Russland und der Ukraine, aber noch nie am aktuellen Ausgrabungsfeld

Bis jetzt hätten die Grabungsteams an dem Siedlungs- und Burgplatz am Fluss Ros schon an die 100 Skelette ausgraben können. Jetzt werden die Funde weiter ausgewertet und analysiert. Die nächste Phase der Ausgrabungen soll im kommenden Frühjahr beginnen. „Ich selbst war noch nie da“, sagt Jens Schneeweiß, der sich, wie wohl sehr viele Menschen in diesen Zeiten, Frieden wünscht und in Gedanken bei den Menschen in der Ukraine ist. „Das schönste wäre doch, wenn wir im Frühjahr dort gemeinsam graben könnten.“

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