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Seehunde im Wattenmeer werden wieder aus der Luft gezählt

Seehunde im Wattenmeer werden wieder aus der Luft gezählt

Seehunde im Wattenmeer werden wieder aus der Luft gezählt

dpa
Emden
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Seehunde und Kegelrobben liegen auf einer Sandbank. Foto: Sina Schuldt/dpa

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Schön ist das Seehundeleben an der Nordsee! Du döst bei Ebbe auf der Sandbank, die Sonne wärmt den dichten, grauen Pelz. Und nur am Himmel brummt ein kleines Flugzeug - aber das dient einem guten Zweck.

Da unten liegt wieder eine Gruppe: «Ein bisschen weiter rechts», weist Ole Stejskal den Piloten an, und der steuert das kleine Flugzeug an einer der vielen Sandbänke im Wattenmeer entlang. Unten im Sand 30 bis 40 graue, bräunliche oder helle Flecken - Seehunde. Und einige Flecken ganz klein - neugeborene Welpen. Der Wissenschaftler macht aus gut 150 Meter Höhe Fotos von der Gruppe und markiert den Ort der Sichtung auf einer Karte.

Wie in jedem Sommer werden die Seehunde im Wattenmeer aus der Luft erfasst. So soll möglichst zuverlässig ermittelt werden, ob der Bestand der Meeressäuger stabil ist. An der niedersächsischen Küste begannen am Freitag die 15 Kontrollflüge. Bis 23. August wird jeweils fünf Mal von den Flugplätzen Emden, Mariensiel und Nordholz aus geflogen.

Auch Schleswig-Holstein und die Nordsee-Anrainer Niederlande und Dänemark zählen im Rahmen des internationalen Seehundschutzabkommens. 2022 wurden entlang der Nordseeküste 23.650 Seehunde erfasst, die bei Ebbe auf Sandbänken lagen. In Niedersachsen waren es dem zuständigen Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (Laves) zufolge 8720 Tiere. Der tatsächliche Bestand liegt höher, weil immer etwa ein Drittel der Seehunde im Wasser schwimmt.

«Wir zählen jedes einzelne Tier», sagt Stejskal, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Laves. Kleine Gruppen bis 20 Tiere zählen er und und der Wattenjagdaufseher Hans Michel als zweiter Mann aus der Luft. Größere Ansammlungen werden fotografiert, um die Bilder später am Bildschirm auszuzählen: Dies sind Alttiere, das sind neugeborene Seehunde. Und die da gehören nicht mit aufs Bild, nämlich die verwandten Kegelrobben. Die Kegelrobben seien größer und dunkler, sie liegen dichter beieinander als Seehunde - das helfe bei der Unterscheidung, sagt der Wissenschaftler. Die Robben, die größten Raubtiere in Deutschland, werden zu anderen Zeiten gezählt.

Die Seehundwelpen sind am weißlichen Fell zu erkennen. Noch sind es nicht viele. Die Wurfsaison hat erst begonnen und steuert auf den Höhepunkt Ende Juni zu. Die fünf Flüge über drei Monate dienten deshalb verschiedenen Zwecken, erläutert Stejskal: Erst werde vor allem die Zunahme der Jungtierpopulation ermittelt, später im August nach dem Fellwechsel dann die Gesamtzahl der Seehunde.

Das Flugzeug vom Typ Gippsland GA8 Airvan ist in Emden gestartet und arbeitet sich in vielen Schleifen an der Kette der Ostfriesischen Inseln entlang. «Borkum Radio, wir sind auf einem Seehundzählflug», meldet Pilot Daniel Simmering sich per Funk an. «Wir überfliegen die Insel auf 500 Fuß.» Im Gespräch zwischen den Zählern fliegen die Fachbegriffe hin und her: «F1 und 18 - 2» - also 18 Alttiere und 2 Junge am Fotopunkt 1. Und ein weiterer Eintrag in der Karte.

In Niedersachsen wird der Seehundbestand seit 1958 systematisch erfasst. «Das ist ein einzigartiger Datensatz», sagt die Wildtierspezialistin Ursula Siebert von der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Die Kurve zeigt den Tiefstand von nur noch etwas über 1000 Seehunden Mitte der 1970er Jahre, die Einschnitte durch Krankheiten. «Eine Erfahrung ist, dass die Seehundbestände sich nach den Virus-Epidemien immer schneller erholt haben, als wir gedacht haben.»

Man könne den Bestand der Seehunde als Gradmesser für die Qualität des Lebensraums Wattenmeer sehen, sagen Stejskal wie Siebert. Wenn es also dem Fisch- und Muschelfresser gut geht, ist die Nahrungskette dann in Ordnung? Nur die Zunahme einer Population reiche als Anzeiger nicht aus, sagt die Professorin Siebert. «Wir müssen tiefer sehen.»

Sie ist zum Beispiel besorgt wegen der Verluste an neugeborenen Tieren, die Gesamtzahl wächst nicht entsprechend. «Es verschwinden überproportional Jungtiere.» Und es gebe wenig Informationen, was mit ihnen passiere. Im vergangenen Jahr ging der Gesamtbestand erstmals seit 2011 zurück - alles noch im Bereich natürlicher Schwankungen, wie es heißt. Doch die Experten machen sich Gedanken: Könnte im Wattenmeer eine natürliche Grenze für den Seehundbestand erreicht sein? Doch das ist nur eine mögliche Antwort.

Seehunde wandern viel, die ganze Nordsee ist ihr Jagdrevier, und den Experten macht gerade der Ausbau der Windenergie Sorge. «Der Bau von Offshore-Parks bringt großes Gefahrenpotenzial für Meeressäuger mit sich», sagt Siebert. In vielen Meeresgebieten lagere alte Munition, die gesprengt werden müsse. Das Errichten der Windräder mache Lärm unter Wasser, es gebe mehr Schiffsverkehr. «Im Vergleich dazu ist das Wattenmeer ein ruhiges Rückzugsgebiet für die Tiere.»

Fast drei Stunden lang geht der Flug bis zur Umkehr an der Insel Spiekeroog. Das Wattenmeer zeigt von oben ein Farbenspiel in Braun, Beige, Grün, Türkis und Blau. Der Wind bläst feine Riffeln ins flache Wasser. Priele verästeln sich im Sand wie Adern. Eine herrliche Landschaft - und gelegentlich eine kleine Gruppe Seehunde.

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