Nachruf

Tilman Zülch - Ein kompromissloser Kämpfer für Menschenrechte

Tilman Zülch - Ein kompromissloser Kämpfer für Menschenrechte

Tilman Zülch - Ein kompromissloser Kämpfer für Menschenrecht

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Berlin
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In Gedenken an Tilman Zülch. Foto: Jan Diedrichsen

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Am Freitag, 17. März 2023, ist Tilman Zülch im Alter von 83 Jahren in Göttingen verstorben. Ohne ihn gäbe es heute keine Gesellschaft für bedrohte Völker und auch die Menschenrechtsarbeit in Deutschland wäre eine andere gewesen.

Tilman Zülch wurde am 2. September 1939 in Deutsch-Liebau / Libina in Nordmähren geboren und wuchs in Ostpreußen auf. Wie so viele seiner Generation hat er sich sein Leben lang – die Familie floh in den letzten Kriegstagen – an den eigenen Kindheitserinnerungen abgearbeitet.

Die Erlebnisse der Flucht und die in den ersten Nachkriegsjahren im Jungen-Internat an der deutschen Westküste haben das Leben von Tilman Zülch vorgezeichnet, heute würde man wohl sagen „traumatisiert“. Doch in seiner Kindheit und Jugend gab es für diese Erlebnisse kaum Worte, geschweige denn Verständnis.

Menschenrechte waren für Tilman Zülch immer alles. Kompromisslos, in aller Schärfe, nicht zu Zugeständnissen bereit.

Jan Diedrichsen

Kämpfers für die Menschenrechte

Das Erlebte war – so schrecklich es sich in der Erinnerung festgebrannt hatte und dabei auch teilweise verdrängt wurde – Motor für das imposante Lebenswerk des streitbaren und unbestechlichen Kämpfers für die Menschenrechte. Nach Jahrzehnten als Vorsitzender und Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) trat Tilman Zülch 2017 in den Ruhestand. Ohne ihn gäbe es heute keine Gesellschaft für bedrohte Völker und auch die Menschenrechtsarbeit in Deutschland wäre eine andere gewesen. 

Der Biafra-Krieg war ein nigerianischer Bürgerkrieg von 1967 bis 1970. Er begann damit, dass der ölreiche, christliche Südosten Nigerias 1967 seine Unabhängigkeit erklärte, und die Republik Biafra ausrief. In einem grausamen Krieg eroberte das Zentralregime Nigerias das Gebiet 1970 zurück. Der Krieg gilt heute als einer der blutigsten Konflikte Afrikas. Die geschätzten Todeszahlen variieren und liegen zwischen 500.000 und drei Millionen Todesopfern.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) erhielt ihren sperrigen Titel in einer anderen Zeit. Heute würde wohl kaum jemand auf die Idee kommen, eine Menschenrechtsorganisation so zu benennen. Zweifelhaft ist darüber hinaus, ob eine solche Initiative, entstanden als Reaktion auf die Schrecken des Biafra-Krieges, heute überhaupt eine Chance haben würde. Mit der kirchlichen Luftbrücke flog Tilman Zülch in den Biafra-Kessel und wurde Zeuge der Aushungerung, der zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Laut für diejenigen, die keine Stimme haben

Vor mehr als 50 Jahren, als Tilman Zülch und Klaus Guercke die GfbV gründeten, standen die Zeichen auf Sturm. Es waren die Tage der Studierendenbewegung, der politisch und ideologisch aufgewühlten Konflikte. Die Gründer und ihre vielen Unterstützerinnen und Unterstützer, Ehrenamtliche, Aktivisti und Menschenrechtlerinnen und -rechtler, die damals die Arbeit prägten, wollten einen Gegenpunkt setzen. Sie wollten auf sämtliche Genozide, Vertreibungen, Massenvergewaltigungen – kurz die zahlreichen, unerträglichen, schwersten Menschenrechtsverletzungen weltweit – aufmerksam machen und sich nicht mit Verweisen auf „Nebenwidersprüche“ zum Schweigen bringen lassen. Die GfbV war damals eine Bewegung gegen den Zeitgeist. Das Motto lautete: „Auf keinem Auge blind.“

Zahlreiche Persönlichkeiten beteiligten sich in den vergangenen Jahrzehnten an den Aktionen. Marion Gräfin von Dönhoff, Heinrich Böll, Paul Celan, Erich Kästner, Siegfried Lenz, Ernst Bloch, Jürgen Habermas, Günther Gras, Carl Zuckermayer und der ebenfalls vor wenigen Tagen verstorbene Ernst Tugendhat erhoben ihre Stimmen für diejenigen, die keine Stimme hatten. 

Eigene Opfer für die Menschenrechte

Tilman Zülch hatte für sich und „seine GfbV“ einen unbeirrbaren Kompass. Immer auf der Seite der vermeintlich Schwachen, der Unterdrückten, der bedrohten Völker, Nationalitäten und Minderheiten. Wer seinem Weg nicht folgen mochte, sich nicht einordnen konnte, bekam das oft in aller Härte zu spüren.

Das Leben von Tilman Zülch war auch geprägt von zum Teil heftigen Auseinandersetzungen und kompromisslosen Brüchen. Seine Kraft für die Menschenrechte, seine Opferperspektive hatte einen Preis. Viele Freundschaften blieben am Wegesrand liegen. 

Wegbereiter vieler Minderheiten

In unvergessenen Aktionen – er kettet sich in Sarajevo, dessen Ehrenbürger er wurde, an, als die Bomben flogen. Auch der Einsatz seiner ihm eigenen imposanten Stimme und Statur wusste Tilman Zülch einzusetzen. Nicht selten stand er breitbeinig und mit durchgedrücktem Rücken vor einem Ordnungshüter und erklärte, warum genau hier und genau jetzt Protest notwendig sei. 

Ohne Tilman Zülch und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter wäre die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma, die „In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt“ (so ein Buchtitel) nicht denkbar gewesen. Noch heute sprechen die Kurden hochachtungsvoll und voller Bewunderung von Tilman Zülch, der als Erster mit der GfbV diesem bedrohten und verlassenen Volk in Deutschland eine Stimme gab, aber vor allem Anerkennung und Respekt entgegenbrachte.

Nach der Wende war Tilman einer der ersten, der sich auf den Weg zu den Sorben in die Lausitz machte und die verdutzten Angehörigen dieser slawischen Minderheit fragte, wie er helfen könne. Immer wieder verwies er stolz auf seine umfangreiche Stasi-Akte und die unzähligen Anfeindungen, die ihn über die Jahre hinweg aus allen politischen Lagern entgegengebracht wurden.

Kompromisslos und bei den Menschen

Mit seinen Publikationen in der Reihe rororo und nicht zuletzt mit der GfbV-Zeitschrift „pogrom“ wurden in Deutschland Standards gesetzt. Hochglanz und Oberflächlichkeiten waren verpönt, aber wer mehr wissen wollte über die bedrohten Völker und Minderheiten weltweit, der kam um die Publikationen der GfbV nicht herum. Nie poliert, aber auch nie bedeutungslos. 

Menschenrechte waren für Tilman Zülch immer alles. Kompromisslos, in aller Schärfe, nicht zu Zugeständnissen bereit. Für ihn wurde Menschenrechtsarbeit bei den Menschen gemacht – der Politik auf das Maul schauen und hauen, wenn nötig, nicht vom Schreibtisch, sondern „auf der Straße“.

Nach dem Tode seiner Frau Ines Köhler-Zülch vor vier Jahren, die ihn ein Leben lang eine unverzichtbare Stütze und Freundin war, verließen Tilman nach und nach die Kräfte – geistig, körperlich und am Ende verließ ihn auch der Lebenswille. 

Wir trauern um einen großen Menschenrechtler und einen Freund, dessen Andenken wir in Ehren halten werden. 

Feryad Omar (GfbV-Bundesvorsitzender 2012–2017) und Jan Diedrichsen (GfbV-Bundesvorsitzender 2017–2021)

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