Deutsch-Dänisch

Forschungsprojekt untersucht Schriftsprachen in der historischen Grenzregion

Forschungsprojekt untersucht Schriftsprachen in der historischen Grenzregion

Projekt untersucht Schriftsprachen in der Grenzregion

Nordschleswig/Flensburg
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Samantha M. Litty
Samantha M. Litty untersucht in den kommenden Jahren, welche Sprachen in welchen Situationen in der mehrsprachigen deutsch-dänischen Grenzregion verwendet wurden. Foto: Gerrit Hencke

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Welche Sprachen wurden zwischen 1789 und 1914 von wem in welchen Situationen in der mehrsprachigen deutsch-dänischen Grenzregion verwendet? Diese Frage beantwortet eine US-Amerikanerin an der Universität Flensburg. Dabei ist sie auf die Mithilfe von Menschen aus der Region angewiesen, die noch alte Briefe, Poesiealben oder sonstige Schriftstücke besitzen.

Die historische Soziolinguistin Samantha M. Litty von der Europa-Universität Flensburg möchte in einem Forschungsprojekt die Geschichte der deutsch-dänischen Grenzregion anhand der Mehrsprachigkeit in geschriebenen Texten rekonstruieren. Wie wurde im 19. Jahrhundert gesprochen, wie wurde geschrieben, und welche „Fehler“ und Abweichungen gibt es zur Standardsprache?

Dabei fokussiert sie sich auf den Zeitraum des „langen 19. Jahrhunderts“ – also den Zeitraum von der Französischen Revolution bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs (1789 bis 1914) und sucht insbesondere Schriftstücke von Menschen, die in der Geschichte bisher unbeachtet geblieben sind – etwa von Frauen sowie von wenig gebildeten oder ungebildeten Menschen. Das können persönliche Briefe, Postkarten oder Poesiealben sein, die in der Regel nicht in Gemeinde- oder Landesarchiven zu finden sind. Mithilfe des Projekts soll eine innovative Darstellung der Sprachengeschichte der Grenzregion im 19. Jahrhundert entstehen.

Fokus auf Schriftsprache der einfachen Menschen

„In Archiven finden sich diese handgeschriebenen Texte oft nicht, dort werden hauptsächlich Dokumente von wichtigen, das heißt gebildeten und meist männlichen Menschen aufbewahrt. Die Mehrheit der Menschen war jedoch im Vergleich eher ungebildet und im Schreiben ungeübt“, sagt Litty. „Die Sprache der einfachen Menschen wollen wir sichtbar machen.“ 

Das besagt auch der etwas sperrige Titel des Forschungsprojektes „Visibilizing Normative Regional Historical Multilingualism: Ideology Policy and Practice“, kurz ViNoRHM. Es wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit knapp 360.000 Euro für drei Jahre gefördert und ist die erste Sprachengeschichte der mehrsprachigen deutsch-dänischen Region.

Die Sprache der einfachen Menschen wollen wir sichtbar machen.

Dr. Samantha Litty, Projektleiterin
Die Soziolinguistin sucht für ihre Arbeit private Dokumente, etwa Briefe, Tagebücher, Familien- oder Gästebücher.
Die Soziolinguistin sucht für ihre Arbeit private Dokumente, etwa Briefe, Tagebücher, Familien- oder Gästebücher. Foto: Gerrit Hencke

Die lange Geschichte der Mehrsprachigkeit im historischen Herzogtum Schleswig weckte das Interesse der US-Amerikanerin schon früh. Sie selbst hat Wurzeln in Schleswig-Holstein. Von hier wanderte ihre Familie vor Generationen in die USA aus. Sie selbst wuchs monolingual auf, kam aber über einen Schüleraustausch wieder nach Schleswig-Holstein, woraufhin sie begann, sich für die Sprache und Geschichte der Region zu interessieren. 

Das Forschungsfeld, das frühere Herzogtum Schleswig, umfasst im Wesentlichen das heutige Nordschleswig in Dänemark und Südschleswig in Schleswig-Holstein. „Wer sprach oder schrieb wann Friesisch, Niederdeutsch, Sønderjysk, Dänisch oder Deutsch? Welche Sprachen wurden darüber hinaus geschrieben und gesprochen?“ Diese Fragen will Litty beantworten und sammelt dafür Texte, die einfache Bürgerinnen und Bürger in diesem Zeitraum verfasst haben. „Im täglichen Leben wurden mehrere Sprachen verwendet, aber nicht alle wurden geschrieben“, sagt Litty. 

Ein besonderes Gästebuch

Ein Beispiel sei das Ranzelberger Gästebuch. Es enthält etwa 1.600 Einträge auf etwas mehr als 400 Seiten. „Das Buch lag lange im Archiv des Nordfriisk Instituuts, wurde aber nun transkribiert. Es enthält auch Einträge in friesischer Sprache, was es so besonders macht“, sagt Andre Hermann, der das Projekt als studentische Hilfskraft unterstützt. Der Lehramtsstudent weiß, dass das Buch von 1838 bis 1880 zwischen Husum und Tondern (Tønder) am westlichen Ochsenweg in einem Gasthof auslag, den es heute nicht mehr gibt. Dort, im heutigen Langenberger Forst, kehrten unter anderem angehende Volksschullehrer ein, die während ihrer Ausbildung zwischen den Orten pendelten. Sie trugen Lieder, Reisesprüche oder auch politische Parolen in das Buch ein.

Hermann selbst brachte Dokumente seiner Uroma aus Schleswig mit in das Projekt. Dabei handelt es sich um zwei Poesiealben, in denen Teile der Texte in der Kurrentschrift verfasst sind. Sie ähnelt in Teilen der dänischen Kurrentschrift, die hier als „Gotisk Skrift“ geläufiger ist.

Im täglichen Leben wurden mehrere Sprachen verwendet, aber nicht alle wurden geschrieben. 

Dr. Samantha Litty, Projektleiterin

Neues Forschungsfeld

Das Vorhaben von Litty ist gänzlich neu. „Eine Geschichtsschreibung, die sich in erster Linie auf den Sprachgebrauch der Bevölkerung stützt und damit auch die Machtdynamiken in einer mehrsprachigen Region untersucht, gibt es bisher noch nicht.“

Ausgehend von den Texten, soll nicht nur untersucht werden, wie die Menschen damals tickten und welche Positionen sie zu den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen hatten, sondern auch, ob die schriftsprachlichen Eigenheiten einzelner Menschen auch auf ganze Regionen zutreffen. „Die Norddeutschen lassen beim Sprechen etwa die Endungen weg. Dann heißt es nich anstatt nicht. Diese Abweichungen zur Standardsprache wollen wir ebenfalls untersuchen.“ 

Kurrentschrift
Viele der alten Dokumente sind in Kurrentschrift verfasst. Im dänischen Sprachraum hat sich die Bezeichnung Gotisk Skrift (dänische Kurrent) etabliert. Sie unterscheidet sich jedoch von der deutschen Kurrentschrift. Foto: Gerrit Hencke

Weil das Projekt noch am Anfang steht, lasse sich noch nicht einschätzen, welche Ergebnisse am Ende herauskommen, sagt Litty. Noch sei man auch bei der Suche nach regionalen Texten noch nicht eingeschränkt und nehme „alles, was kommt“.

„Bisher haben wir Kontakte zu regionalen Archiven, aber wir hoffen, dass uns Menschen helfen.“ Noch habe das Team beispielsweise keine Schriftstücke auf Sønderjysk bekommen, so die Forscherin. Das Problem sei, dass diese Dialekte oftmals keine Schriftsprache waren. „Menschen, die etwa Nordfriesisch gesprochen haben, haben trotzdem Hochdeutsch geschrieben.“ Daher sei das Ranzelberger Gästebuch so besonders.

Bitte um Mithilfe

Viele Dokumente wurde nicht aufbewahrt oder schlummern in Kisten auf Dachböden. Daher ist Litty auf Hilfe angewiesen. „Ich möchte mehr über die Gesellschaft in der historisch mehrsprachigen Grenzregion lernen, und wer ist besser geeignet ein Licht darauf zu werfen als die Mitglieder dieser Gesellschaft selbst?“ Die Texte werden gescannt oder fotografiert, damit die Originale in den Familien bleiben können. Persönliche Daten werden vertraulich behandelt. Wer Samantha Litty helfen kann, der kann sie kontaktieren unter: https://www.uni-flensburg.de/vinorhm/kontakt

Samantha M. Litty

Zur Person

Die Amerikanerin Dr. Samantha M. Litty hat 2011 ihren Bachelor in „Environmental Policy and Planning“ und „German“ an der University of Wisconsin – Green Bay und 2013 ihren Master in „German“ an der University of Wisconsin – Madison abgeschlossen. 2017 hat sie dort in germanistischer Linguistik promoviert. Nach Tätigkeiten als Gastdozentin für Deutsch am Luther College in Decorah, Iowa, und der University of Pennsylvania, Bloomsberg, kam sie 2019 als Forschungsstipendiatin der Alexander von Humboldt Stiftung an die Europa-Universität Flensburg und die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Seit Januar 2023 leitet sie das Forschungsprojekt „Visibilizing Normative Regional Historical Multilingualism (ViNoRHM): Ideology, Policy, and Practice“. Das Projekt ist am 20. Januar 2023 gestartet und läuft bis zum 19. Januar 2026.

Es wird unterstützt vom Institut für Frisistik und Minderheitenforschung an der EUF, dem European Centre for Minority Issues (ECMI), der Dänischen Zentralbibliothek sowie dem Nordfriisk Instituut in Bredstedt.

 

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