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„Als die Wählerschaft vor 50 Jahren den Parteien untreu wurde“

Als die Wählerschaft vor 50 Jahren den Parteien untreu wurde

Als die Wählerschaft den Parteien untreu wurde

Kopenhagen
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Die sogenannte „Erdrutschwahl“ 1973 hat die dänische Politik dauerhaft verändert. Und sie hat eine Entwicklung eingeläutet, die in Ländern wie Deutschland sehr viel später kam. Walter Turnowsky erklärt, wie den Altparteien die Stammwählerschaft abhandengekommen ist.

Eine Steuererklärung mit einer runden Null und eine angebliche Autopanne. Das waren die Anfänge vom Ende der festen Parteienstruktur.

An die Steuererklärung von Mogens Glistrup werden sich vielleicht noch einige erinnern; an den ehemaligen Sozialdemokraten Erhard Jakobsen, der die sozialdemokratische Regierung in die Bredouille brachte, wohl eher Polit-Nerds oder Menschen meiner Generation (am ehesten, wenn beides zutrifft).

Aus fünf Parteien wurden zehn

Glistrup und Jakobsen verkörperten auf je ihre Weise einen Protest gegen den heraufziehenden sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat. Bei der Wahl am 4. Dezember 1973 unterstützten ausreichend Wählerinnen und Wähler diese Gesichtspunkte, um die politische Landschaft gründlich aufzumischen.

Mehr als 40 Prozent der Wählerschaft wechselten die Partei. Vor der Wahl saßen fünf Parteien im Folketing, danach zehn. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Großteil der Wählerinnen und Wähler jedes Mal dieselbe Partei gewählt – und nicht selten dieselbe wie ihre Eltern. Das ist seit 1973 vorbei und – wie die Wahl im vergangenen Jahr gezeigt hat – immer vorbeier – sozusagen.

Steuerprotest

Doch müssen wir eben ein wenig zurückspulen, um zu verstehen, was bei der „Erdrutschwahl“ eigentlich passierte. Der Wohlfahrtsstaat tat nicht nur vielen Menschen Gutes, sondern war (und ist) auch teuer. Finanziert wurde das Ganze über steigende Steuern, was bei Weitem nicht allen behagte.

Der wohlhabende Anwalt Mogens Glistrup hatte bereits seit einigen Jahren lautstark und polemisch nicht nur gegen die steigenden, sondern gegen jegliche Steuern protestiert. Er nannte es moralisch verwerflich, Steuern zu zahlen. Als Publicity-Stunt zeigte er im Fernsehen, dass er seinen eigenen Steuersatz auf null gedrückt hatte (allerdings wurde er gut zehn Jahre später wegen Steuerhinterziehung verurteilt).

1972 gründete Glistrup die Fortschrittspartei (Fremskridtspartiet) als Steuerprotest-Partei. Sie erzielte auf Anhieb bei der Erdrutschwahl fast 16 Prozent der Stimmen. Einer seiner „Programmpunkte“ war, man solle die Landesverteidigung durch einen Anrufbeantworter ersetzen, auf dem der Satz „Wir ergeben uns“ eingesprochen war. Die Zeit des Populismus war in der dänischen Politik eingeläutet worden.

Erhards leerer Tank

Erhard Jakobsen war die Sozialdemokratie zu links (geworden), und er gründete am 6. November 1973 die Zentrum-Demokraten (Centrum-Demokraterne). Er versprach zwar, die Regierung zu unterstützen, doch bereits zwei Tage später kam er zu spät zu einer Abstimmung. Der Sprit sei ihm ausgegangen, so seine Entschuldigung. Die Regierung verlor ihre Mehrheit, und es kam zur Wahl.

Die Zentrum-Demokraten erzielten fast 8 Prozent. Mit von der Partie war übrigens der damalige Redakteur des „Nordschleswigers“, Jes Schmidt. Ihm war es gelungen, als Vertreter der Schleswigschen Partei auf der Liste der Zentrum-Demokraten kandidieren zu können.

Zwölf Parteien im Folketing

Weder die Zentrum-Demokraten noch die Fortschrittspartei gibt es noch. Doch während Erstere vollkommen von der Bildfläche verschwunden ist, ist die Nachfolgepartei von Zweiterer die Dänische Volkspartei (DF). Pia Kjæsgaard ist 1995 mit einer Reihe von Mitstreiterinnen und Mitstreitern aus Glistrups ziemlich chaotischem Verein ausgebrochen. Die von ihr gegründete Dänische Volkspartei hat die dänische Politik 20 Jahre lang entscheidend geprägt.

Weitere Parteien sind seit der Erdrutschwahl verschwunden, andere hinzugekommen. Die Parteienlandschaft hat sich zersplittert. Bei der Wahl 2022 gelang zwölf Parteien der Sprung über die Zwei-Prozent-Hürde, noch einmal zwei mehr als 1973.

Heute müssen die Parteien von Wahl zu Wahl hart um die Stimmen der Wählerinnen und Wähler kämpfen, eine Stammwählerschaft existiert kaum noch. Einstige Volksparteien wie Venstre und die Konservativen sind dahingeschmolzen.

In Deutschland: Später und langsamer

In Deutschland begann diese Entwicklung erst zehn Jahre später und ging langsamer. Lange erschien es fast grundgesetzlich verankert, dass es im damaligen Bonner Bundestag drei Fraktionen gab: die CDU/CSU, die FDP und die SPD. 1983 gelang den Grünen der Einzug.

Nach der Wende kam die SED-Nachfolgepartei PDS dazu, aus der seither die Linke hervorgegangen ist. 2017 schaffte die AfD mit über 12 Prozent locker den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde. Demnächst könnte sich die Sahra-Wagenknecht-Partei dazugesellen.

Wie in Dänemark wechseln auch in Deutschland die Wählerinnen und Wähler die Partei heute fast so oft wie die Unterhose. Während des Wahlkampfes 2021 waren die Verschiebungen in den Umfragen immens. Der natürliche Anspruch der SPD und der CDU/CSU auf das Kanzleramt ist seit diesem Wahlkampf nicht mehr gegeben. In den Bundesländern stellen sie längst nicht mehr per Automatik die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten.

Diese Entwicklung wird sich, so meine Einschätzung, nur noch weiter beschleunigen. Dafür bedarf es heutzutage weder einer dubiosen Steuererklärung noch eines leeren Benzintanks.

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