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„Ausspucken wie die Fliegen: ‚Ich habe keine Worte mehr‘“

Ausspucken wie die Fliegen: ‚Ich habe keine Worte mehr‘

Ausspucken wie die Fliegen: ‚Ich habe keine Worte mehr‘

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Brüssel/Apenrade
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Jana Tannagascheva ist Schorin und lebt mit ihrer Familie im politischen Asyl in Schweden. Foto: Privat

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Die von Putin betriebene brutale Unterwerfung der Völker und Gebiete, die er als Teil Groß-Russlands sieht, hat fatale Auswirkungen auf die vielen Nationalitäten und Völker Russlands, schreibt Jan Diedrichsen in seiner Kolumne.

Heute möchte ich meine Kolumne Jana Tannagascheva widmen, einer Schorin, die in Schweden mit ihrem Mann und ihren Kindern im politischen Asyl lebt. Sie hat viele Leserinnen und Leser in der vergangenen Woche mit einem Gedicht berührt, in dem sie gegen Scham und Wut anschreibt: „Russland und mein Volk sind in den teuflischen Tanz des Krieges verwickelt. Es tut weh, meine Seele schmerzt. Ich habe die ganze Nacht geweint, ich habe alles herausgeschrien. Ich habe keine Worte mehr für das, was in meiner Seele vor sich geht", schrieb sie in ihrer Verzweiflung über die Entwicklung der vergangenen Wochen.

Um Jana zu verstehen, muss man wissen, dass die Schoren ein bedrohtes Volk im Norden Russlands sind, das rund 20.000 Angehörige zählt. Jana kämpft seit Jahren aus dem schwedischen Exil gegen die mehr oder weniger offene Assimilationspolitik Russlands. Vor allem die rücksichtslosen Umweltverbrechen, welche die Lebensgrundlage der Schoren und anderer indigener Völker massiv gefährden.

Dass Putin nun in aller Offenheit umsetzt, was er seit Jahren immer wieder formuliert und angekündigt hat – nämlich die brutale Unterwerfung der Völker und Gebiete, die er als Teil Groß-Russlands sieht, hat fatale Auswirkungen auf die vielen Nationalitäten und Völker Russlands. Viele haben sich in den vergangenen Tagen willfährig dem Kreml angebiedert, das muss leider so deutlich gesagt werden; es wurden zahlreiche Unterstützungserklärungen nach guter UdSSR-Manier veröffentlicht.

Putin ist ein Diktator, und Diktatoren fordern bedingungslose Loyalität. Die Nationalitäten, die Völker und Minderheiten Russlands stehen daher unter enormem Druck. Das Wort der „fünften Kolonne“ macht die Runde. Gegner sollen „ausgespuckt werden wie Mücken“ (Zitat Putin).

Am 18. März sangen und tanzten die Schoren in der staatlichen Philharmonie in Kuzbass für Putin, für den Krieg, der nicht so heißen darf. Ein Ensemble mit schorischer Volkstanzkunst ist in diesem Video zu sehen und im Beitrag spricht plötzlich Putin aus dem Off:

„Ich bin Lake, ich Dagestaner, ich Tschetschene, ich Tatar, ich Mordwine, ich Ossete, ich Jude, ich Ingusche, ich Russe… Ich bin stolz, ein Teil dieser Welt zu sein, Teil des großen multinationalen Volkes Russlands.“

Am Ende des Videos ergreift dann eine Schorin das Wort: „Die Schoren, ein indigenes Volk des Kuzbass, unterstützen die russische Armee, wir sind für die Gerechtigkeit, Freundschaft unserer Völker, wir sind für den Frieden.“ Sie endet mit dem symbolischen Z – dem Zeichen des russischen Angriffskrieges.

Was wie eine opulent überzeichnete Propaganda-Inszenierung erscheint, zeigt den Riss, der quer durch die Nationalitäten, durch die Familien geht: Die Putin-Verehrerin am Ende des Videos ist nämlich die Schwägerin von Jana Tannagascheva. Man versteht die Wut und Scham, die Jana und ihr Mann empfinden, als sie dieses Video, das tausendfach in den sozialen Medien geteilt wird, sehen. Jana Tannagascheva hadert mit sich, ihrer Familie und ihrem Volk und schreibt:

Der Krieg wurde von den Schoren unterstützt.
Deren Vorfahren gegen den Faschismus kämpften
Für den Frieden, für das Vaterland,
Für unsere zukünftigen Kinder …
Nicht für „Zed“, was „töten“ heißt.
Sie haben nicht für Lieder und Tänze gekämpft,
Sie haben nicht für die Arschkriecherei gekämpft.
Nicht dafür, dass es von der Bühne „Heil Putin“ schallt.
Es ist, als ob du von dieser Essenz zombifiziert wurdest,
♪ Mit dem Blut der Ermordeten, ihr seid alle mit Blut befleckt ♪
Mein stolzes, ernstes und kluges Volk,
Nachkommen von Torbokov, Tadarlar, alle meine Art,
Wachet auf, kommt zur Vernunft, tut Buße, ich bitte Euch.
Im Namen der Kaichi, unserer Vorfahren, bitte ich Euch …
Ich habe keine Worte mehr, keine Gefühle mehr.
Denn dies ist mein Volk, dies sind die Schoren …“

(Übersetzung: Tjan Zaotschnaja)

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