Diese Woche In Kopenhagen

„Von Stränden, Pflastern, Bomben und Cannabis“

Von Stränden, Pflastern, Bomben und Cannabis

Von Stränden, Pflastern, Bomben und Cannabis

Kopenhagen
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Die Freistadt Christiania will Anfang April die Pusher Street aufgraben. Das hat Walter Turnowsky zu einem längeren Exkurs zurück zu den Wegen und Irrwegen des Jugendaufstandes 1968 und folgenden Jahren veranlasst.

Ein Strand ist für Menschen, die in Nordschleswig wohnen, nichts Außergewöhnliches. Viele haben ihn direkt vor der Haustür und die Übrigen brauchen nicht weit zu fahren. So kann man dann dort entlangspazieren oder auf einem Handtuch liegend die Sonne genießen – der Frühling ist schließlich nicht weit.

In der Großstadt gestaltet sich das alles schon ein wenig anders. Zwar hat Kopenhagen im Laufe der vergangenen ungefähr 20 Jahre einige Stadtstrände bekommen, aber so ganz wie ein natürlicher Strand ist es doch nicht.

Und besuchen wir eine deutsche Großstadt wie – ganz zufällig gewählt – Frankfurt am Main, sieht es mit dem Strandvergnügen noch mauer aus. Doch bereits in den 1970er-Jahren hatte die dortige Sponti-Szene unter dem Straßenpflaster einen Strand gefunden.

Der Pflasterstrand

Und da man die Pflastersteine bereits in der Hand hatte, konnte man mit ihnen auch gleich gegen den repressiven Staat und für eine sozialistische Zukunft kämpfen. Die revolutionären Spontis haben zwar so einige Polizeibedienstete mit den Steinen getroffen; das eigentliche Ziel – die kapitalistische Gesellschaft – jedoch eher verfehlt. Die zeigte sich alles in allem vom Spruch „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ recht wenig beeindruckt.

Und so machten sich ein Teil der als 68er betitelten Bewegung auf den langen Marsch durch die Institutionen. Einer von ihnen, ein gewisser Joschka Fischer, ist sogar bis ins Außenministerium marschiert – doch da war von seiner Revolution nicht mehr allzu viel übrig. Andere gingen den entgegengesetzten Weg und griffen zu wesentlich gefährlicheren Waffen als Pflastersteinen …

Besetzung einer Kaserne

Auch in Kopenhagen träumten junge Menschen vom sozialistischen Paradies. Einige von ihnen machten sich auch auf, es gleich einmal umzusetzen und besetzten für den Zweck 1971 die verlassene „Bådmandsstræde Kaserne“. Die Freistadt (Fristaden) Christiania war geboren.

Dort blieben die Pflastersteine bis heute liegen. Doch am 6. April ist damit auf einer kurzen Strecke von ungefähr 100 Metern des 34 Hektar großen Geländes Schluss. Die Bewohnerinnen und Bewohner wollen das Pflaster der Pusher Street wegreißen. Die Hasch-Meile soll ganz buchstäblich verschwinden.

Schüsse im einstigen Hippie-Paradies

Der Traum vom freien Hasch hatte sich über die Jahre immer mehr zum Albtraum entwickelt. Wobei schon seit Jahrzehnten nicht der nette Dealer von nebenan, sondern knallharte Kriminelle den Cannabis-Markt inmitten der Freistadt kontrollieren.

Doch nachdem am 26. August des vergangenen Jahres erneut Schüsse gefallen waren, eine Person ermordet und vier Unbeteiligte verletzt wurden, hatten die ungefähr 850 Christianitinnen und Christianiten die Nase voll. Sie wollen den offenen Hasch-Handel vor ihrer Haustür nicht mehr tolerieren.

Die Straße soll bebaut werden, Kulturangebote das Green Light District ablösen. Die ungefähr eine halbe Million Touristinnen und Touristen sind weiterhin willkommen, nur ihr Hasch müssen sie woanders kaufen.

Terror der RAF

Wenden wir den Blick wieder nach Deutschland, so hatte sich auch dort ein Teil des Traums von der Freiheit zum Albtraum gewandelt, ausgelöst durch jene, die zu Bomben und Pistolen griffen. Menschen meiner Generation werden sich noch daran erinnern, als man an der Grenze von Beamtinnen und Beamten mit schussbereiten Maschinenpistolen kontrolliert wurde. Die Fahndungsplakate nach den Mitgliedern der Roten Armee Fraktion (RAF) sehe ich bis heute vor meinem inneren Auge.

Bekanntlich jagt die Polizei derzeit die mutmaßlich letzten Reste der Stadtguerilla, wie sich die RAF selbst nannte. Am 26. Februar hat sie Daniela Klatte in Berlin verhaftet. Burkhard Garweg und Ernst-Volker Staub sind noch auf freiem Fuß. Von einem – wenn auch falsch verstandenen – Kampf für eine bessere Gesellschaft war bei dem Trio seit Auflösung der RAF 1998 nichts mehr übrig. Sie haben – so zumindest die Anschuldigung der Polizei – mit Raubüberfällen ihren Lebensunterhalt finanziert.

Ein Teil von uns selbst?

Doch bei all dem sollten wir nicht vergessen, dass das Aufbegehren der Jugend 1968 und den folgenden Jahren uns sehr viel mehr als Terrorismus und Drogenkriminalität hinterlassen hat. Mag sein, dass aus dem sozialistischen Paradies nix geworden ist. Aber vieles von dem, was wir heute als selbstverständlich ansehen, sind die positiven Abdrücke, die sie bei ihrem Marsch hinterlassen haben.

Der Abbau von Hierarchien, mehr Gleichstellung, Umweltschutz, Rechte für LGBT+-Personen und – in Deutschland – die Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit, sind alles Fortschritte, an denen „die 68er“ ihren Anteil haben. Und Christiania steht bis heute – bei allen Unzulänglichkeiten – für einen Entwurf, wie man auch leben kann.

„I kan ikke slå os ihjel, vi er en del af jer selv“, heißt es in der 1976 komponierten „Nationalmelodie“ von Christiania (sinngemäß: „Ihr werdet uns nicht los, wir sind ein Teil von euch selbst“). Die zweite Zeile könnte wahrer sein, als uns bewusst ist.

Am 6. April sind übrigens alle Menschen im Land eingeladen, beim Pflasterstein-Rausbrechen mitzumachen. Und wer weiß: Vielleicht befindet sich unter der Pusher Street ja ein schöner Strand.

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