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„Hjemsted“: Grenzlandgeschichte als Heimatroman

„Hjemsted“: Grenzlandgeschichte als Heimatroman

„Hjemsted“: Grenzlandgeschichte als Heimatroman

Hadersleben/Hoptrup
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Am Freitag erscheint der vierte Roman aus der Feder von Anna Elisabeth Jessen. Foto: Ute Levisen

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Anna Elisabeth Jessen hat es wieder getan: In ihrem vierten Roman „Hjemsted“, der am Freitag erscheint, hat sie erneut die komplizierte Grenzlandgeschichte literarisch aufgearbeitet. Diese Geschichte nimmt mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Hadersleben ihren Anfang, macht einen Abstecher auf den Knivsberg und in die Redaktion der „Nordschleswigschen Zeitung“, um in einem Pflegeheim zu enden – vorläufig zumindest.

Anna Elisabeth Jessen ist Dokumentaristin, Journalistin und Romanautorin aus Hoptrup. Am Freitag erscheint ihr viertes Prosawerk. Darin knüpft sie dort an, wo sie in ihrer nordschleswigschen Familiengeschichte vor „In 100 Jahren“ aufgehört hat.

„007“ auf gepackten Koffern

Gerade erst von einer Reise nach Paris zurückgekehrt, legt Anna Elisabeth Jessen auf ihrem herrlich gelegenen Anwesen in Hoptrup vor den Toren Haderslebens einen Pitstop ein. „007“, der betagte Kater des Hauses, hat es sich auf dem Reisekoffer der Schriftstellerin bequem gemacht: „Er schläft immer auf meinem Koffer“, erzählt Anna Elisabeth Jessen. Am Freitag erscheint ihr neuestes Werk „Hjemsted“ im Verlag Gyldendal – und im Kopenhagener Verlagshaus werden die Sektkorken knallen.
 

Auch über die Stasi hat die Autorin ein Feature gemacht: „Tod eines Agenten" heißt es. Foto: Ute Levisen

Die dunklen Jahre

Viel Zeit wird „007" daher auf Frauchens Koffer nicht vergönnt sein, denn die 66-Jährige ist eine umtriebige Frau und viel auf Achse, um zu recherchieren. 

Für ihr jüngstes Werk hat sich Jessen erneut in die Geschichte des Grenzlandes vertieft. Und weil es sehr viel zu erzählen gibt, ist der Rechercheaufwand enorm. Wobei die vielfach ausgezeichnete Dokumentaristin in dieser Hinsicht aus dem Vollen schöpfen kann. Mit der Geschichte des Grenzlandes ist sie zum einen bestens vertraut – zum anderen spielen der eigene Vater und Persönlichkeiten aus ihrer Heimatregion darin wichtige Rollen.

Fiktion und Wirklichkeit

Denn in „Hjemsted“ verquickt die Autorin Fiktives mit wahren Begebenheiten: „Es gibt zwei Erzählstränge: einen großen, historisch korrekten und einen fiktiven“, sagt sie.

Den Stoff für die gut bestückte Personengalerie entnimmt sie historisch verbrieften Ereignissen ihrer Heimatregion: „Der Titel ist deshalb bewusst gewählt“, verrät Jessen.

 „Hjemsted“ – das ist jener Ort, an dem Menschen ihre Wurzeln haben. Ihr habe die Doppeldeutigkeit des Titels gefallen. Von Juli Zeh und ihrem Roman „Unterleuten“ hat sich Jessen dabei inspirieren lassen: Wie das fiktive Dorf in Zehs Roman ist auch Hjemsted bei Jessen mehr als nur ein Ortsname. 
 

Der Einmarsch deutscher Truppen in Hadersleben erweist sich für die Hauptpersonen des Romans als schicksalhaft. Hier ist eine Szene aus dem Film „9. April" zu sehen. Foto: Ute Levisen

Hjemsted – das ist Hoptrup. Und das Dorf unweit von Hadersleben bildet zum Auftakt der Geschichte Ende der 30er-Jahre die Kulisse ihres Romans. Wir begegnen Johannes, dänisch durch und durch und ganz Militärmann.

Sein Gegenspieler ist Peter, dessen Vater aus der Volksgruppe stammt; die Mutter ist dänischer Herkunft, doch deutsch national gesinnt. Margrethe, die junge Dorfschullehrerin und Anführerin zweier Widerstandsgruppen, ist die dritte Heldin dieses „Heimatromans“, in dem Anna Elisabeth Jessen aus der Perspektive ihrer jeweiligen Romanfiguren deren Beweggründe, Gedanken, Handlungen schildert und ihre Leben literarisch nachzeichnet, die Summe des Ganzen.
 

Einmarsch in Hadersleben

Der Einmarsch deutscher Truppen in die Domstadt Hadersleben am 9. April 1940 erweist sich für Jessens Romanfiguren in jeder Hinsicht als ein schicksalhaftes Ereignis. Es verändert ihr Leben, ein jedes auf seine Weise, mehr oder weniger dramatisch.

Aus Margrethe wird eine Frontfigur des Widerstands. Als die dänische Regierung sich den deutschen Besatzern ergibt, schließt sich der dänisch national gesinnte Johannes dem „Freikorps Dänemark“ an. Auf die anfängliche Begeisterung folgt die Verbitterung: Johannes ist auf Versprechungen von Freikorps-Chef Christian Peder Kryssing hereingefallen: Nicht in der eigenen Uniform, sondern im Dienst der Waffen-SS kämpft er an der Ostfront gegen die Russen.

Die Vergangenheit spiegelt sich in der Gegenwart in dem Nordschleswig-Roman „Hjemsted" von Anna Elisabeth Jessen. Foto: Ute Levisen

Geschichte – und kein Ende

Wir begegnen der Ukrainerin Sweta, die in ihrer Jugend nach Nordschleswig kam – und fast 100 Jahre später dort, 2022, in der sicheren Pflegeheimabteilung „Bøgen“ mit dem Schicksal ihrer vor Putins Krieg geflüchteten Familie konfrontiert wird.

Den Handlungsbogen in „Hjemsted“ spannt Jessen von den 30er-Jahren bis in die Gegenwart: „Damit ist die Geschichte bei Weitem nicht zu Ende. Alles ist miteinander verwoben“, betont sie.

„Die Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber sie reimt sich“, hat ein kluger Mensch einmal gesagt. In Jessens Roman – wie im Leben – reimt sie sich dergestalt, dass es unheimlich anmutet: „Sweta hat es nicht für möglich gehalten, in ihrem Leben noch einmal mit Krieg und Flucht konfrontiert zu werden“, sagt Jessen.
 

Anna Elisabeth Jessen in ihrem Arbeitszimmer Foto: Ute Levisen

Die große Frage

Für ihren Roman hat die Autorin tief in ihre Schatzkiste als Dokumentaristin gegriffen. Dazu gehört die bis heute ungeklärte Frage, wer oder was den jungen Gefreiten tötete, der einer der vier Opfer der Kampfhandlungen am 9. April 1940 in Hadersleben war.

„Das Projektil befindet sich im Haderslebener Museum“, sagt die Autorin, die zu diesem ungeklärten Fall der Geschichte ebenfalls ein Radiofeature gemacht hat.

Auch der „Nordschleswigschen Zeitung“ – zumindest ihrer Anzeigenabteilung – stattet Jessen in „Hjemsted“ einen fiktiven Besuch ab.

Der Turm auf dem Knivsberg

Ganz und gar nicht fiktiv ist die Romanhandlung rund um die Sprengung des Turms auf dem Knivsberg, der Versammlungsstätte der Volksgruppe: Dänische Widerstandsgruppen hatten kurz nach Kriegsende deren 46 Meter hohen Turm gesprengt.

In Jessens Roman schritten Niels Frederik und Margrethe damals zur Tat. Die Sprengung galt seinerzeit als Sachbeschädigung, da der Krieg seit drei Monaten vorbei war und Hitler-Deutschland kapituliert hatte.

Unter den Widerständlern im Buch ist der junge Niels Frederik. Um ihn in eine literarische Form zu gießen, brauchte die Autorin für die Recherche nicht weit zu reisen, sondern lediglich in der eigenen Familiengeschichte zu blättern: „Vielleicht sollte ich das nicht laut sagen, aber Niels Frederik verkörpert meinen Vater. Er war damals dabei“, verrät Anna Elisabeth Jessen: „Ob die Minderheit jetzt sauer ist?“

Der Vater der Autorin gehörte zur Widerstandsgruppe, die den Turm auf dem Knivsberg sprengte. Foto: Ute Levisen

„Hjemsted“

„Hjemsted“ ist das neueste Werk von Anna Elisabeth Jessen. Es erscheint am 31. März. Liebe, Politik und Identität in Nordschleswig sind die Schwerpunkte des Romans, der in den 1930er-Jahren beginnt und in der Gegenwart endet.

Einer seiner Protagonisten ist Peter. Er wächst mit einem Vater auf, der auf deutscher Seite im Ersten Weltkrieg gekämpft hat. Die Enttäuschung über die Niederlage Deutschlands überschattet Peters Kindheit. Am 9. April 1940 trifft er eine folgenschwere Entscheidung, die ihn für den Rest seines Lebens prägt …

Der Roman ist im Verlag Gyldendal erschienen, hat 459 Seiten und kostet 260 Kronen in der Druckausgabe. „Hjemsted“ gibt es zudem als E-Buch sowie als Hörbuch.

 

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