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„Das Warten auf den Sturz Putins und bessere Zeiten für die kleinen Völker Russlands“

Das Warten auf den Sturz Putins und bessere Zeiten

Das Warten auf den Sturz Putins

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Kopenhagen
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Dmitri Berezhkov erzählt im Gespräch mit Jan Diedrichsen, warum er seit langer Zeit nicht in seine Heimat in Russland zurückkehren kann, was das aktuelle Regime für ihn und seine Familie bedeutet und wie er sich Russland nach Putin vorstellt.

Dmitri Berezhkov lebt seit über einem Jahrzehnt in Norwegen. Sein politisches Engagement für die indigenen Völker der Russischen Föderation hat ihn aus seiner Heimat vertrieben. Er ist Itelmene aus Kamtschatka und Chefredakteur der Webseite „Indigenous Russia“ sowie Mitgründer des „International Commitee for Indigenous Peoples of Russia“ (ICIPR).

Ich treffe Dmitri an einem regnerischen, ungemütlichen Herbsttag in Brüssel. Alles wie immer? Nicht ganz: In Brüssel ist die Nervosität fast zu greifen. Auf den Straßen im Europa-Viertel jagt eine Demonstration die nächste. Nach dem feigen Mord an zwei schwedischen Fußballfans ist die Sicherheitslage zusätzlich angespannt. Auch im Europäischen Parlament, bei den vielen Veranstaltungen und politischen Diskussionen ist die Anspannung zu greifen.

Wer interessiert sich in so angespannten, geopolitisch dramatischen Zeiten für die bedrohten Völker und Minderheiten Russlands? Dmitri macht im Gespräch sofort deutlich, dass er kein Aktivist mehr sein will. Ich frage ihn leicht überrascht, was er damit meine, da er zu den markantesten indigenen Stimmen in der Diaspora zählt und mir auch lachend bestätigt, dass der russische Sicherheitsapparat weiterhin sehr genau verfolge, was er so im Ausland treibe. Er ist skeptisch, ob der bisherige Weg in der Arbeit für die bedrohten Völker wirklich zielführend ist: „Wir müssen ehrlich sein, als Aktivisten können wir kaum etwas erreichen. Wir machen für unsere Leute keinen wirklichen Unterschied. Wir werden zwar eingeladen und dürfen Berichte abgeben – aber was bringt es unseren Gemeinschaften?“, so Dmitri, der seine persönliche Zukunft an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik sieht.

„Wir müssen dokumentieren, was gerade passiert, und wir müssen uns vorbereiten auf eine Zeit nach Putin“, so Dmitri. Er klingt dabei nicht defätistisch, sondern weiterhin kämpferisch, wenn er von den skandalösen Ausbeutungen der Natur im hohen Norden berichtet, an dem immer noch zahlreiche europäische und deutsche Konzerne Profite abgreifen.

Beinahe nebenbei berichtet er davon, wie sein Schwager von der Straße weg an die Front rekrutiert wurde – gegen seinen Willen. Es sind die indigenen Völker, die einen besonders hohen Preis für die imperialen Phantomschmerzen eines Wladimir Putin und seines revanchistischen Russlands zahlen müssen. Wie so oft in der Vergangenheit werden die Soldaten für die blutigen Kriege Russlands nicht in Moskau oder Sankt Petersburg rekrutiert, sondern in den Weiten des durch die russischen Kolonisatoren zusammengeraubten Staatsgebietes. Entsprechend hoch ist der Blutzoll unter den indigenen Völkern in diesem Krieg.

Jan Diedrichsen hat Dmitri Berezhkov in Brüssel getroffen. Foto: Jan Diedrichsen

Doch wie wird Russland nach Putin aussehen? Es wird derzeit, so berichtet Dmitri, in der Opposition (die allesamt im Ausland lebt oder im Untergrund agieren muss) viel von einer Dekolonisierung Russlands gesprochen. Dass viele Russen weiterhin dem Irrglauben anhaften, dass die Russische Föderation nur aus Russland bestehe. Und dass in Russland nur Russen leben. Russland hat sich in seiner Geschichte in der Tradition des Kolonialismus der europäischen Großreiche seine Territorien zusammengeraubt. Russland hat mit seiner kolonialen Vergangenheit nie gebrochen, sondern sieht die Eroberungen seit dem 18. Jahrhundert bis heute als eine Rückkehr zu „Mütterchen Russland“.

„Für die indigenen Völker Russlands ist es von entscheidender Bedeutung, dass der russische Staat und die Gesellschaft die historische Tatsache der Kolonialisierung anerkennen. Dies könnte der Ausgangspunkt für eine neue, gerechtere Beziehung zwischen den indigenen Völkern und dem Staat sein. Eine solche Anerkennung ist der erste Schritt zu einer nationalen Versöhnung, wie sie in Kanada, Norwegen, Australien und anderen Ländern mit einer Geschichte des Unrechts gegenüber ihren indigenen Völkern stattgefunden hat“, erklärt Dmitri, der weiß, dass diese Vision einer russischen Dekolonisierung derzeit völlig aussichtslos ist.

„Eine Befreiung von Russlands autoritärem Regime könnte uns schnell zu Bürgern eines neuen autoritären Landes machen. Die bittere Realität ist, dass es praktisch keine Aussicht gibt, dass die kleinen Bevölkerungen der indigenen Völker im fernen Norden Russlands, in Sibirien und im Fernen Osten jemals den Luxus haben werden, Selbstbestimmung in Form von unabhängigen Staaten zu erlangen. Wie auch immer sich die politische Situation in Russland entwickeln wird, wir werden wahrscheinlich in einem fremden Land leben“, so Dmitri, der ausführt: „Zahlreiche weitere Probleme stehen zwischen unseren Völkern und ihrer Selbstbestimmung. Wir leiden unter dem Mangel an qualifizierten Fachkräften, der geografischen Isolation unserer angestammten Gebiete, dem niedrigen Bildungsniveau unseres Volkes und den unzureichenden finanziellen Ressourcen. Hinzu kommt, dass wir in den Regionen, die unsere angestammte Heimat sind, größtenteils nur eine Minderheit der Bevölkerung stellen.“

Eine wichtige Voraussetzung für das Überleben und die weitere Entwicklung als eigenständige Nationen sei daher nicht die Möglichkeit, einen eigenen Staat zu gründen und zu regieren, sondern eine sinnvolle politische Beteiligung.

„Unsere Selbstverwaltungsinstitutionen müssen die Möglichkeit haben, dafür zu sorgen, dass unsere Jäger, Fischer und Hirten Zugang zu ihrem traditionellen Land und ihren traditionellen Ressourcen haben, dass unsere Kulturen und Sprachen erhalten bleiben und dass unsere Völker die Möglichkeit haben, ihr politisches, wirtschaftliches und soziales Potenzial zu verwirklichen“, so Dmitri.

Nach dem Gespräch an einem regnerischen Tag in Brüssel bleibe ich wie so oft nach solchen Treffen etwas beschämt zurück, weil mein bestes Angebot zu unterstützen darin besteht, mein Verständnis und meine Zuneigung auszudrücken. Doch dafür kann sich Dimitri nichts kaufen. An Verständniserklärungen mangelt es ihm kaum. Über meine Einladung, das deutsch-dänische Grenzland kennenzulernen, hat er sich gefreut. Und auch wenn Dimitri kein Aktivist mehr sein will, ist er ein Paradebeispiel eines guten und mutigen Vertreters seines Volkes.

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