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„Wandel durch Handel: Ein gescheitertes Konzept“

Wandel durch Handel: Ein gescheitertes Konzept

Wandel durch Handel: Ein gescheitertes Konzept

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Apenrade/Aabenraa
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Wer noch auf eine Rückkehr zur Weltordnung vor dem 24. Februar 2022 hofft, sollte sich davon verabschieden. Mit Blick auf die Region ums Schwarze Meer steht Europa eine von Kriegen geprägte Zukunft Europas bevor – und die Minderheiten stecken mittendrin.

Es soll Menschen geben, die denken (oder wohl eher hoffen), dass der Krieg im Osten irgendwann endet und wir wieder zurückkehren, zu der Weltordnung vor dem 24. Februar 2022 und dem verbrecherischen Angriffskrieg Russlands.

Doch einen Weg zurück gibt es nicht und wird es nicht geben. Darüber hinaus ist es auch zweifelhaft, ob die Nachkriegsordnung nicht bereits viel eher beendet wurde, spätestens mit dem chaotischen Abzug der Amerikaner aus Afghanistan, womit deutlich signalisiert wurde, wir sind nicht mehr die Ordnungsmacht der Welt und wollen es auch nicht sein.

Ein Signal, das auch Putin aufgegriffen haben mag. Europa, und damit ist zuvorderst die Europäische Union gemeint, wird sich weiterhin schwierigen Fragen stellen müssen. Mit dem Bruch aller bisherigen Regeln durch Russland ist auch das „Erfolgsrezept“ Europas obsolet.

Die Idee hinter dem Wandel durch Handel

Es ist kein Geheimnis, dass die Regierung Merkel sich wenig Illusionen über den Charakter Putins und des Machtapparats im Kreml gemacht hat. Doch man verfolgte das Prinzip der ökonomischen Verflechtung und dem Ansatz des „Wandels durch Handel“.

Die Idee dahinter ist simpel: Man treibe die gegenseitige Abhängigkeit so weit – unter anderem durch den Kauf von Rohstoffen und Verkauf von Technologie –, dass ein Angriff, wie ihn Russland auf die Ukraine unternommen hat, nicht denkbar erscheint, da die daraus folgenden Kosten viel zu hoch wären.

Daher hat Deutschland auch so lange an dem Projekt Nordstream 2 festgehalten und der eigentliche Kriegsbeginn mit der Annexion der Krim 2014 wurde zwar verurteilt, aber harte Folgen hatte Russland nicht zu zeitigen. Das kann man mit einigem Recht als „Appeasement“-Politik bezeichnen. Russland wurden Zugeständnisse gemacht, um eine Aggression, wie wir sie derzeit mit dem barbarischen Krieg erleben, zu verhindern. Man wollte das europäische Modell des „Wandels durch Handel“ – ein wichtiger Garant unserer aller Wohlstands – um jeden Preis stabilisieren.

Diese Politik setzt jedoch voraus, dass es auf der Gegenseite – also im Kreml – rationale Akteure gibt, die wissen, dass sie durch Krieg mehr zu verlieren haben, als zu gewinnen. Diese rationalen Akteure hat man in ihrer Rationalität komplett überschätzt. Das Ergebnis ist der Krieg im Osten Europas.

Deutschland in einer neuen Rolle

Doch was nun? Die Welt hat sich für Europa grundlegend geändert. In Deutschland wird dies sinnbildlich durch die ausgerufene „Zeitenwende“ (die in ihrer Umsetzung aktuell massiv kritisiert wird). Deutschland findet sich in einer komplett neuen und ungeliebten Rolle wieder. Es muss geopolitisch und militärisch denken, lenken und selbst handeln. Anders als in der Geschichte ist Europa jedoch vereint und kämpft nicht intern gegeneinander.

Wir müssen gar nicht nach China schauen oder hoffen, dass Russland endlich den Wahnsinnskrieg beendet. Der Konflikt bleibt vor der Haustür und wird nicht wie mit Zauberhand verschwinden. 

Konflikte rund ums Schwarze Meer

Wer eine Karte vor Augen hat, sollte den Blick auf das Schwarze Meer richten. Von dort aus sieht man die geopolitischen Unwegsamkeiten für Europa deutlich. Im Norden vom Schwarzen Meer haben wir den Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Putin macht keinen Hehl daraus, dass er die Ukraine unterwerfen will.

Russkyi Mir: Wo Russen leben, ist Russland. Das Konzept ist leider nicht aus der Zeit gefallen, aber aus der blutigen europäischen Geschichte nur allzu bekannt. Doch schauen wir weiter: Östlich vom Schwarzen Meer ist der Kaukasus. Dort gibt es zwischen Armenien und Aserbaidschan schon lange Krieg, nur ein Krieg, den wir geflissentlich verdrängen. Dann wäre da noch die Türkei, die nun schon seit Jahren Krieg gegen die Kurden führt. 

Ein Krieg zwischen der Türkei und Griechenland hat sich bislang wohl nur vermeiden lassen können, weil beide Länder Mitglieder der NATO sind. Und wir haben im Westen des Schwarzen Meeres den Balkan, der bis nach Bosnien reicht und dem aktuellen Konflikt zwischen Serbien und Kosovo, welcher auch die Gefahr in sich trägt, Europa einen weiteren Krieg zu bescheren. 

Europas Zukunft

Alle diese Konfliktregionen rund um das Schwarze Meer werden uns in den nächsten Jahrzehnten in Europa beschäftigen, ob wir wollen oder nicht. 

Das größte Problem in der Nachbarschaft Europas bilden drei Länder mit „imperialen Phantomschmerzen (Herfried Münkler). Russland und das Konzept der Russkyi Mir, die Türkei, die sich unter Erdogan als legitimen Nachfolger des Osmanischen Reiches versteht und auch Serbien, dem großen Verlierer der Jugoslawienkriege in den 90er-Jahren.

In allen den genannten Ländern wird propagandistisch geschickt die angeblich „große Vergangenheit“ der eigenen „Reiche“ glorifiziert. Diesem imperialen Denken folgt eine irredentistische Politik auf dem Fuße. Dem muss Europa, muss die EU, entschieden entgegentreten. Hier hilft kein Appeasement oder „Wohlstandstransfer“, der anerkanntermaßen bislang die Konflikte vor unserer Haustür größtenteils hat befrieden können.

Die Minderheiten mittendrin

Es fordert nun ein klares Bekenntnis zu den eigenen Werten: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, verbunden mit einer nicht anzuzweifelnden eigenen Wehrhaftigkeit. Mit Blick auf die Krisenregionen sollte die EU auch eine klare Minderheiten- und Autonomiepolitik umsetzen, die unabhängig von staatlicher Einflussnahme ist.

Denn man muss keine Hellseherin sein, um zu erkennen, dass die geopolitische Region um das Schwarze Meer die Nationalitäten- und Minderheitenfrage künftig verstärkt auf die Agenda bringen wird.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

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