Leitartikel

„100 Jahre mit Hirn und Herz“

100 Jahre mit Hirn und Herz

100 Jahre mit Hirn und Herz

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Dem Journalisten Poul-Erik Thomsen ist ein Meisterwerk gelungen: ein Buch über die Unterschiede, die durch Politik und Politiker in 100 Jahren Nordschleswig bewirkt worden sind. Der frühere „Nordschleswiger“-Chefredakteur Siegfried Matlok erteilt dem verehrten Kollegen ein hohes Kompliment – und entschuldigt ein klein wenig Besserwisserei.

Der Journalist Poul-Erik Thomsen hat auf beachtlichen 447 Seiten ein Buch herausgegeben, das imponierend 100 Jahre der Geschichte Nordschleswigs umfasst. Der ehemalige Chefredakteur, der sich nun als politischer Kommentator vor allem bei „TV-Syd“ einen Namen gemacht hat, verdient hohe Anerkennung für diese Sisyphusarbeit, für das enorme Werk, das die wechselhafte Geschichte unseres Landesteils seit 1920 journalistisch schildert und sich dabei auch vom Stil her – sogar wohltuend – von so manch trockenen Historikern unterscheidet. 

Thomsen – Jahrgang 1946, geboren in Roskilde – ist „Sønderjyde“ mit großem „S“ geworden, und deshalb ist es erfreulich, dass er nicht nur einen Rückblick auf 100 Jahre wagt, sondern auch einen Blick nach vorn. Und ihm ist spürbar anzumerken, dass er nicht mit allen Entscheidungen, die auf Christiansborg über Nordschleswig gefallen sind, einverstanden ist. 

„PET“ stellt selbstkritisch auch die Frage: „Er større og større størst“, will heißen, dass – nicht nur ihm – Größe allein als Kriterium für Zukunftslösungen nicht ausreicht, vor allem nicht, wenn es um Nordschleswig geht, das mit der aus Kopenhagen diktierten Kommunalreform 2007 Teil der neuen Region Syddanmark geworden ist – leider auch verbunden mit Identitätsverlusten im Grenzland. 

100 Jahre zu bewältigen ist auch für den so sportlichen Thomsen kein ungefährlicher Spagat, der Verletzungsanfälligkeiten mit sich bringt. Er hat seinem Buch – beraten vom anerkannten Historiker Mogens Rostgaard Nissen – den Titel verliehen: „De gjorde en Forskel.“ Also handelt es sich um Leute, die nach seiner Meinung für Nordschleswig einen Unterschied gemacht haben, und dabei hat sich der Autor allein auf die Politik und Politiker seit 100 Jahren konzentriert, wobei er noch-aktive Politiker bewusst ausgeklammert hat. Wenn man an die von ihm erwähnten Politiker denkt, steigt einem ein dänischer Volksspruch in den Kopf: Was ist höher – „Rundetårn“ oder ein Donnerwetter? 

Äpfel mit Birnen vergleichen ist ja so eine Sache, und auch wenn „PET“ mehrfach darauf hinweist, dass es ihm bei den 20 auf seiner Liste stehenden Personen nicht um eine Rangliste geht, so muss er sich natürlich die Frage gefallen lassen, warum ausgerechnet diese 20 bei ihm historische Beachtung finden. Thomsen, der selbst politische Kommentatoren wie „Besserwisser“ verachtet, hat bei der Vorstellung seines Buchs im Apenrader „Folkehjem“ den aus Nordschleswig stammenden langjährigen Staatsminister Poul Schlüter als jenen genannt, der wohl bedeutungsvoll Platz eins einnimmt. Unsere Sympathien für Regierungschef Schlüter sind bestens bekannt, aber bei aller Würdigung seiner staatsmännischen Leistung für das Land ist doch die Frage berechtigt, was er „ganz besonders“ für Nordschleswig geleistet hat. Manche werden sich daran erinnern, dass in seiner Regierungszeit das historische Seminar in seiner Geburtsstadt Tondern ein brutales Ende fand, als damals trotz heftiger Proteste in Kopenhagen mit – wie es hieß – „Lex Sønderjylland“ Schluss gemacht wurde.

Thomsen beschränkt sich auf Politik und Politiker – ehrenwert, aber wenn von Gesamt-Unterschieden die Rede ist, dann gehören natürlich auch die Wirtschaftskapitäne in den Leuchtturm, denn wo stünden Politik und Politiker in Nordschleswig heute z. B. ohne Mads Clausens Danfoss?   

Nun sagt ja die Bewertung „Forskel“ (Unterschied) noch nichts über die schwierige und wohl auch individuell festzulegende Grenze von Gut und Böse aus, und vor diesem Hintergrund ist seine Namensliste durchaus einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dass Thomsen dabei viele in der heutigen Zeit kaum noch bekannte Persönlichkeiten in seine „Ehrengalerie“ aufgenommen hat, soll kein Vorwurf sein, aber natürlich ist schon die Frage erlaubt, warum in der Reihe ehemaliger Bürgermeister sehr verdienstvolle Stadtoberhäupter wie Anders Andersen (Sonderburg) oder Peter Olesen (Hadersleben) ebenso wenig berücksichtigt worden sind wie z. B. der alsische Visionär A. P. Hansen in Sonderburg. 

Stattdessen findet man den FRP-Politiker Helge Dohrmann – rechts, aber sympathisch –, der in Nordschleswig kaum Glanztaten vollbracht hat; im Gegensatz zu J. K. Hansen und Kaj Ikast, die sich beide als Verkehrsminister auch um den Landesteil verdient gemacht haben. Dass der große Dänen-Führer H. P. Hanssen ebenso wie der sozialdemokratische „Kindervater“ I. P. Nielsen-Dynt als nordschleswigsche Profile herausgestellt werden, ist verständlich, unverständlich hingegen, dass Graf O. D. Schack, der 1920 und nach 1945 eine führende Rolle nicht nur für die dänische Seite gespielt hat, keinen Platz an der Sonne von „PET“ gefunden hat. Allemal zu begrüßen ist jedoch seine Wahl von Erik Jessen und Kresten Philipsen, die sich beide wie Landeshauptmänner große Verdienste um Nordschleswig erworben haben.  

Wenn im Buch zwischen Gut und Böse zu unterscheiden ist, dann gehört in diese Kategorie auf jeden Fall der dänische Nazi-Führer Frits Clausen aus Baurup, der vergebliche Putsch-Ambitionen nach dem 9. April verfolgte, dem andere jedoch zugutehalten, dass er allein durch seine politische Existenz die Besatzungsmacht von einer Grenzänderung 1940 abgehalten haben soll.  

In diesem Zusammenhang ist auch einem Vertreter der deutschen Minderheit, Pastor Johannes Schmidt-Wodder, ein eigenes Kapitel gewidmet. Schmidt-Wodder kann als politischer Gründungsvater der deutschen Volksgruppe betrachtet werden, die aus seiner Sicht wider Willen nach der Volksabstimmung 1920 „Opfer“ der dänischen Wiedervereinigung mit Sønderjylland wurde. Wodder bekannte sich von Anfang an zum Kampf für eine neue Entscheidung gegen den Versailler Vertrag – auch mit offenem Visier im Folketing. Oft ist die Frage gestellt worden, ob Wodder auch Nationalsozialist geworden ist. Selbst hat er bestritten, dass er jemals Parteimitglied gewesen ist, aber dass er nach seinem Sturz öffentlich den Kurs seines DNSAP-N-Nachfolgers im Reichstag ab 1939, Dr. Jens Möller, unterstützt hat, gehört ebenso zur bitteren Wahrheit wie seine seltsame Denkschrift an die dänische Regierung nach dem 5. Mai 1945, die in höchstem Maße den schmalen Loyalitätsgang der deutschen Minderheit zwischen Weiterbestehen und Absturz gefährdete. 

Thomsen porträtiert Wodder fair, aber haben nicht andere Personen aus der Minderheit, die – oft sogar in dieser kritischen Periode auf sich allein gestellt – nach 1945 einen demokratischen Neunbeginn wagten, mehr bewegt? Gut, darüber lässt sich gerne diskutieren, aber ein Fehler fällt in Verbindung mit der deutschen Minderheit doch negativ ins Gewicht. Thomsen schreibt, dass „eine große Mehrheit“ der deutschen Minderheit nach dem 5. Mai 1945 den demokratischen Loyalitätskurs unterstützt hat. Lieber Kollege, schön wär's ja gewesen, ein Blick ins Archiv von „Jydske Tidende“ 1945 hätte ihn eines Besseren belehrt. Denn Wahrheit ist, dass die deutsche Minderheit nach 1945 noch lange Zeit in dieser Vergangenheits-Frage gefangen, gespalten war, und dass erst viel, viel später Konsens in der Volksgruppe hergestellt wurde. Dankbar ist deshalb zu notieren, dass Thomsen den Anteil der deutschen Volksgruppe am überwältigenden Ja bei Volksabstimmung zur dänischen EU-Mitgliedschaft hervorhebt – der 2. Oktober 1972 markiert sozusagen eine europäische Zeitenwende im Grenzland! – und dass er die Verdienste des kürzlich verstorbenen Generalsekretärs Peter Iver Johannsen seit seinem Amtsantritt 1973 um die deutsch-dänische Verständigung im Grenzland angemessen würdigt.  

Diese Anmerkungen sollen nicht besserwisserisch das Gesamtbild trüben, das 100-jährige politische Bild Nordschleswigs, das Poul-Erik Thomsen mit kräftigen Farben und allen rot-weißen und braunen Facetten gelungen ist. 

Wer sich besonders für die oft dramatische deutsch-dänische Geschichte dieses Landesteils mit Rück- und Ausblick interessiert, der kann auf dieses bei „Historisk Samfund for Sønderjylland“ erschienene Buch nicht verzichten. Als Symbiose von Hirn und Herz. 

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