Kulturkommentar

„Birke müsste man sein – oder nicht?“

Birke müsste man sein – oder nicht?

Birke müsste man sein – oder nicht?

Sonderburg/Sønderborg
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In einem Kulturkommentar denkt Journalistin Sara Wasmund darüber nach, wie der Jahreszeitenwechsel Bäume und Menschen verändert.

Wieder einmal stehe ich ungläubig vor der Tatsache, dass der Sommer vorbei ist und wir uns mit großen nassen Schritten dem Weihnachtsfest nähern. Gefühlt befinde ich mich kurz vor Pfingsten. Doch nein. Mein Boot liegt längst umgedreht auf dem Rasen neben dem Ufersaum, gerudert wird jetzt nur noch zurück.

Jedes Jahr im Herbst verfärbt sich meine Stimmung zusammen mit den Blättern der Bäume. Während das Laub in Orange und Braun umschlägt, hüllt sich meine Seele für eine kleine windige Weile in ein frisches Steingrau.
Und ich frage mich, woher Bäume und Gemüt eigentlich wissen, dass Herbst ist. Dass es Zeit ist, sich einzutrüben. Es hat mit den kürzer werdenden Tagen zu tun, so viel ist klar. Aber wie genau läuft das noch mal mit der Fotosynthese im Herbst? Mein gefühltes Wissen ist enorm. Es geht um Kohlendioxid, Wasser und Traubensaft. Oder war es Traubenzucker? Ich weiß jedenfalls noch aus dem Bio-Unterricht mit Lehrer Pratz, dass es einen grünen Farbstoff gibt, der im Sommer all die anderen Pigmente in den Blättern verdeckt.

Diese Pigmente sind die ganze Zeit über da, aber nicht sichtbar. Mit den Gemütspigmenten verhält es sich genauso. Melancholie, Wehmut, Sehnsucht und Verzagtheit entstehen im Herbst nicht einfach. Sie sind immer da. Doch im Sommer sind sie verdeckt unter einer dicken Schicht Sonnencreme. Sie liegen träge im Sand und regen sich vor lauter Hitze nicht, werden übertönt vom Plantschen der kleinen Wellen am Strand und sind eingelullt in den Geruch von gegrillten Lammsteaks in Rosmarinmarinade. Von Sonnenuntergängen atemlos gemacht, vom Salz auf der Haut ausgetrocknet, vom Zirpen der Grashüpfer in den Schlaf gewogen. Aber diese Gefühle sind immer da. Kraft tankend, bis ihre Zeit gekommen ist.

Und dann werden die Tage kürzer, und man steht vor einem bunten Laubbaum und zugleich vor den großen Fragen des Lebens. Bin ich richtig, da wo ich bin? Bin ich glücklich? Wo will ich hin? Eine dänische Durchschnittsbirke wirft im Schnitt 28 Kilogramm Laub ab. Birke müsste man sein. Weg mit dem alten Ballast, eine Runde Winterschlaf und dann noch mal ganz von vorne anfangen.

Aber dann würde man ja auch ganz schön viel verpassen. Diese unendlich gemütliche Zeit vor dem Kamin, mit Büchern und Hörbüchern eingedeckt. Abendessen im Kerzenschein. Die mindestens 34 Kürbissuppen, die aus den auf dem Misthaufen selbst gezüchteten Hokkaidos entstehen. Und nicht zuletzt das Rauschen des Herbststurms, das einem zuflüstert: Bleib doch einfach drinnen, und mach es dir gemütlich, du musst jetzt wirklich nicht rausgehen.

Und wie jedes Mal im Herbst freue ich mich nach den erlebnisreichen und gefüllten Sommermonaten dann doch über diese dunkle und kalte Jahreszeit. Dann streift mein Blick liebevoll den aufgeschichteten Holzturm neben dem Brennofen, und während ich mir eine Walnuss knacke, fühle ich mich wie ein zufriedenes Eichhörnchen im Winternest. Man kann schließlich nicht das ganze Jahr über in Saft und Kraft stehen. Das gilt für Menschen wie Bäume gleichermaßen.

 

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