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„Die Revolution ist weiblich“

Die Revolution ist weiblich

Die Revolution ist weiblich

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Apenrade/Aabenraa
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Im Iran gehen Frauen auf die Straße und setzen sich damit großen Gefahren aus. In Russland protestieren Frauen und Mütter dagegen, dass ihr Männer und Söhne in den Krieg ziehen. Warum Frauen keine prädestinierten Opfer sind, sondern nicht weniger kämpfen und leiden als Männer, erklärt Jan Diedrichsen in seiner Kolumne.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini vor zwölf Tagen gehen die Menschen in Teheran und anderen Großstädten des Iran auf die Straße. Die 22-jährige Kurdin war drei Tage nach ihrer Verhaftung in der iranischen Hauptstadt in Polizeigewahrsam für tot erklärt worden. Ihr „Fehlverhalten“: Sie soll ihr Kopftuch auf „unangemessene“ Weise getragen haben.

Jina Mahsa Amini, die mit ihrem gewaltsamen Tod die Unruhen entfachte, lebte als Frau und als Kurdin in einer doppelten Diskriminierung. Bereits nach der Geburt sollen iranische Behörden den Wunsch der Eltern abgelehnt haben, ihrer Tochter den kurdischen Namen „Jina“ zu geben. Sie wurde dann unter dem Namen „Mahsa“ registriert, aber mit dem kurdischen Namen „Jina“ (Leben) angesprochen.

Nachts auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren, ist ein todesmutiger Akt des Protests. Erschossen zu werden, in den Folter- und Vergewaltigungsgefängnissen zu landen ist nicht nur eine unwahrscheinliche Möglichkeit, sondern eine reale Bedrohung. Vor diesem Mut der Menschen, der Frauen, müssten wir uns alle verneigen. Stattdessen ist die Reaktion der europäischen Demokratien gegenüber den Mullahs in Teheran zum Verzweifeln. Die Frauen, die Demonstrierenden, werden allein gelassen.

In Russland fliehen derweil die wehrfähigen Männer in Scharen aus dem Land, weil sie nicht als Kanonenfutter in der russischen Armee verheizt werden wollen. Protest breitet sich vor allem in den äußeren Gebieten des russischen Reiches aus. Es sind oft Frauen und Mütter, Indigene, die den Protest anführen. Es gibt Aufnahmen und Berichte unter anderem aus Dagestan, in denen wütende Frauen zu sehen sind, wie sie die Sicherheitsbeamten vertreiben, die Worte rufend: „Unsere Söhne kriegt ihr nicht.“

Wir müssen den Fokus wenden und das Narrativ ändern: Die Frauen sind keine prädestinierten Opfer, sie kämpfen und leiden nicht weniger als Männer.  Laut der Vize-Verteidigungsministerin der Ukraine sind 38.000 Soldatinnen in der ukrainischen Armee, 5.000 davon an der Front. Hinzu kommen etliche weibliche Freiwillige, Frauen in der Territoritalverteidigung und Polizistinnen. Schon vor der Invasion im Februar gab das Verteidigungsministerium an, dass mehr als 20 Prozent der Streitkräfte aus Frauen bestehen würden.

Doch viele Frauen haben nicht die Option, an der Front zu kämpfen: Sie flüchten aus ihrer Heimat, meist in Begleitung von Kindern. Millionen von Ukrainerinnen sind aus den Kriegsgebieten in andere Gebiete der Ukraine oder ins Ausland geflohen. Die Frauen tragen nun die Verantwortung für sich und ihre Kinder. Sie müssen in der Fremde neben der Sicherstellung der grundlegenden Bedürfnisse auch unter anderem gewährleisten, dass die Kinder ihre Muttersprache nicht vergessen und parallel eine neue Sprache erwerben, die es ihnen ermöglicht, an ihren Zufluchtsorten zurechtzukommen. Es geht aber auch darum, die Traditionen der Heimat aufrechtzuerhalten, die Erinnerungen an die Familie lebendig zu halten.

Die Berichte aus den besetzten Gebieten, die uns täglich überwältigen, sind derweil oft schaurige Exempel von Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Die grausame Behandlung der Zivilbevölkerung durch russische Soldaten umfasst Misshandlungen, Folter und Mord, bei Frauen und Mädchen häufig auch Vergewaltigung. Wir müssen uns bei diesen Berichten auch immer bewusst machen, dass sich diese Frauen todesmutig den russischen Invasoren widersetzt haben und weiterhin widersetzen. Viele der Frauen, die sich entschieden, in ihren Häusern zu bleiben und sich der Gefahr einer angreifenden Armee auszusetzen, taten und tun dies aus einem Gefühl der Verantwortung gegenüber anderen. Sie entscheiden den Krieg nicht weniger als die Soldaten an der Front.

Ob in Dagestan, in Kurdistan, im Iran oder in der Ukraine – es sind häufig die Frauen, die eine Revolution anführen und Hoffnung machen in einer dunklen Zeit. Wir müssen diesen Kampf unterstützen. Russland und Iran sind beides Archetypen eines patriarchalen Unterdrückungssystems, und sie wanken. Aber auch wir im „Westen“ sollten unsere patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen genauer betrachten. Es ist beschämend, wie hilflos und auch oft feige taktierend den mutigen Menschen, die für ihre Freiheit kämpfen, Unterstützung verweigert wird. Frauen allein würden anders entscheiden.

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