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„Vergangenheitsbewältigung mit Verfassungsrang: Völkermord an der indigenen Bevölkerung Australiens“

Völkermord an der indigenen Bevölkerung Australiens

Völkermord an der indigenen Bevölkerung Australiens

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Apenrade/Aabenraa
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Die Australierinnen und Australier werden wohl noch in diesem Jahr darüber abstimmen, ob die indigenen Völker des Landes, die heute nur noch 3 bis 4 Prozent der Bevölkerung ausmachen, einen Verfassungsrang erhalten.

Die Aborigines auf dem australischen Festland unterscheiden sich von den Torres-Strait-Insulanerinnern und -Insulanern, die von einem Archipel vor der Nordostküste Australiens stammen. Daher wird die indigene Bevölkerung Australiens als Aborigines und Torres-Strait-Insulaner bezeichnet. Im Laufe der Geschichte des Kontinents gab es viele verschiedene Aborigine-Gruppen, jede mit ihrer eigenen Sprache, Kultur und Glaubensstruktur. Zur Zeit der britischen Landnahme gab es über 200 verschiedene Sprachen.

Der Vernichtungsfeldzug der Einwanderinnen und Einwanderer aus Europa hat diese Vielfalt mittlerweile fast komplett zerstört. Bis heute hadern die Australierinnen und Australier mit ihrer dunklen Kolonialgeschichte und dem damit zusammenhängenden Selbstbild. Es war daher ein historischer Moment, als Premierminister Anthony Albanese die Ergebnisse der Verhandlungen zur Änderung der Verfassung vorstellte. Er musste während seiner Rede mehrmals innehalten und kämpfte dabei sichtbar mit den Tränen. Die Australierinnen und Australier werden demnach in diesem Jahr über die Änderung der Verfassung abstimmen. Und es soll ein neues Gremium mit der Bezeichnung „Aboriginal and Torres Strait Islander Voice“ (Stimme der Ureinwohnerinnen und Ureinwohner sowie Torres-Strait-Insulanerinnen und -Insulaner) gegründet werden.

Die politisch-symbolische Geste einer Verfassungsänderung wird im Grundsatz von allen Seiten gelobt. Doch ob die Bürgerinnen und Bürger Australiens schlussendlich der Verfassungsänderung zustimmen, ist noch nicht ausgemacht. Dies kann darüber hinaus nur ein Anfang sein, denn die begangenen Verbrechen werden durch einen Verfassungsrang weder gesühnt noch verschwindet damit die noch immer virulente Diskriminierung und Unterdrückung der „First Nations“ des Landes.

Die indigenen Völker wurden mit unbarmherziger Gewalt unterdrückt und bis heute ist der Völkermord nicht aufgearbeitet. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Brutalität der Invasion und Kolonisierung Australiens in mehrfacher Hinsicht als Völkermord einzuordnen ist. In den 140 Jahren der australischen Geschichte gab es mindestens 270 dokumentierte Massaker, die Teil eines staatlich sanktionierten und organisierten Versuchs waren, die Ureinwohnerinnen und Ureinwohner zu vernichten. Aufgrund kolonialer Völkermordaktionen, wie staatlich sanktionierte Massaker, ging die Bevölkerung der First Nations von schätzungsweise 1,5 Millionen auf weniger als 100.000 Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück.

Ein weiteres Beispiel für die grausame Behandlung der indigenen Bevölkerung war die gängige Praxis, Kinder der Ureinwohnerinnen und Ureinwohner aus ihren Familien zu entfernen und sie in staatlich kontrollierte Reservate zu zwingen. Sie wurden häufig von religiösen Missionarinnen und Missionaren geleitet, um schließlich von weißen Familien adoptiert oder von weißen Familien als Arbeitskräfte aufgenommen zu werden. Die Kinder, die diesem Verbrechen zum Opfer fielen, werden gemeinhin als die „gestohlenen Generationen“ bezeichnet. Es bestand die Absicht, diese Kinder zu „zivilisieren“, was in der Praxis bedeutete, dass den Geraubten der Gebrauch ihrer Sprache oder die Teilnahme an ihrer Kultur untersagt wurde. Infolgedessen sprachen 2016 nur noch zehn Prozent der indigenen Bevölkerung zu Hause eine indigene Sprache.

Viele Angehörige dieser gestohlenen Generationen, ihre Familien und Nachkommen leiden unter den Folgen der Verbrechen. Es hat sich gezeigt, dass diese Traumata das Risiko von Drogenmissbrauch, psychischen und physischen Erkrankungen erhöhen und die Beschäftigungsmöglichkeiten einschränken.

Wenngleich gegenwärtig nicht mehr von einem aktiven Völkermord gesprochen werden kann, hat Australien bis heute die eigenen Gräueltaten nur ungenügend aufgearbeitet. Die indigene Bevölkerung wird weiter von ihren Wurzeln entfremdet, wird diskriminiert und lebt oft am Rande der Gesellschaft. Die Tragödie geht also weiter. Ein Verfassungsrang allein wird dies nicht heilen.

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